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❄︎𝗛𝗼𝗹𝗹𝘆❄︎

Zwei Wochen ist es nun her seit meinem Suizidversuch. So nennen sie es hier. Ich nenne es Befreiungsversuch. Seitdem hat sich nicht viel geändert, außer dass ich nun in einer Klinik lebe. Ich will immer noch sterben, nur sind die Umstände nun erschwert worden. Die Zimmer sind kameraüberwacht. Wir leben alleine in unseren Räumen. Alleine in unserer endlosen Leere. Ich weiß nicht, wer mich damals vom Tod abgehalten hat. Wer mich damals aus dem eisigen Wasser gezogen hat. Ich bin erst im Krankenwagen aufgewacht. Es ist vermutlich besser für mich und meinen Retter, wie die Ärzte ihn bezeichnen. Jetzt weiß ich, dass es ein Er war. Nur seine Hand im Wasser an meiner Schulter konnte ich spüren. Das war alles, bevor mir der Sauerstoffmangel zu sehr zusetzte und ich ohnmächtig wurde. Seine Hand, die mich davon abgehalten hat, ins endlose Nichts zu stürzen. In meine Befreiung, in meine Vergessenheit. Er hat mich vor dem Tod bewahrt. Bewahrt oder gerettet sagen die Ärzte dieser Klinik immer, doch ist es nicht viel eher aufgehalten? Hat der Mann mich nicht viel eher vom Tod abgehalten? Wirklich gut, dass ich ihn nicht kenne. Es ist besser für ihn. Ich wäre so viel lieber gefallen.

Eine Ärztin kommt hinein, wie jeden Morgen seit dem Tag, an dem ich beinahe gestorben wäre. Sie führt mich behutsam aus meinem Zimmer. Verwirrt frage ich sie, wieso ich kein Essen ans Bett bekomme, wieso Ich überhaupt rausgehen darf, doch sie antwortet, dass meine Eingewöhnungsphase nun nach zwei Wochen vorbei sei und ich wie jeder andere hier an sozialen Aktivitäten wie dem gemeinsamen Frühstück teilnehmen müsse. Ich seufze. Seit der Sache mit dem kleinen Jungen verabscheue ich Menschenmengen. Seitdem bin ich introvertierter denn je.

Starrende Blicke, auf mich zeigende Finger, schockierte Gesichter, Gemurmel über meine Verantwortungslosigkeit, Helle Lichter, Sirenen und diese endlosen Blicke, vor denen man sich nicht verstecken kann, Beleidigungen alle an mich gehend, Hupen, doch ich habe es verdient. Ich habe das alles verdient. Eigentlich habe ich den Tod verdient.

Die Krankenschwester reißt mich aus meinen düsteren Gedanken. Doch eigentlich sind sie nicht düster. Sie sind nur eine Wahrheit. Meine Wahrheit. Ich komme in die große Cafeteria. Man hört Gebrabbel. Teilweise klingt es fast schon zu fröhlich für eine Suizidklinik. Mit eingezogenen Schultern versuche ich unsichtbar zu bleiben. Da ruft auf einmal jemand 《Eine Neue ist da. Dort ist eine Neue!》Sofort richten sich alle Blicke auf mich. Nervös trippele ich von einem Bein auf das Andere. Wieso starren sie mich alle so an? Bin ich ein Alien oder was ist los? Ich schaue an mir hinab. Und da bemerke ich erst, dass eine karierte Stoffhose und ein schwarzes Oversize T-Shirt sind. Mein Schlafanzug. Wieso hat die Ärztin nichts gesagt? Wie hatte mir so eine Peinlichkeit nur passieren können? Ich gucke weg. Schallendes Gelächter ertönt und plötzlich bin ich an einem anderen Ort. Der Schutzwall bricht und ich bin wieder ein kleines 9-jähriges Mädchen.

Ich stehe in einem Kreis. 《Hey du Pickelfresse!ruft eines der Kinder. Ich schaue zu Boden. Eine Träne rollt meine Wange hinab. Wie lange muss ich diese Beleidigungen noch ertragen? Wann greift endlich mal jemand ein? Ist meine Akne wirklich so schlimm? Bin ich wirklich so hässlich? Ja, du bist hässlich.rufen die Kinder, während sie in einem Kreis um mich herum hüpfen. Häslon, Häslon. ist das einzige, was ich noch höre, bevor mir irgendwer meinen Rucksack gewaltsam von den Schultern reißt und ihn auskippt. Stifte, Mäppchen, Bücher, Hefte, alles fällt hinaus. Ein Stift zerbricht auf dem Boden. Ich schluchze auf. Mein Lieblingsstift. Sie haben meinen Lieblingsstift zerstört. Der Kreis zieht sich enger um mich zusammen. Ich mache mich klein. Ich weiß, was nun kommen wird. Ein Schubser trifft mich. Ich stolpere vorwärts. Ein fieses Grinsen dann ein Schlag ins Gesicht, wieder ein Schubs. Ich taumele zur Seite um von der nächsten Person erfasst und geschubst zu werden. Wann hört es endlich auf? Wann ertönt die Klingel endlich? Wann bemerkt mich endlich irgendein Lehrer? Doch tief im Innern weiß ich, dass mich niemand bemerken wird. Die Pausenaufsicht schaut nie in diese Ecke, in die ich jede Pause gezerrt werde. Warum tut ihr das?frage ich unter Tränen. Mein Gesicht schmerzt. Mein Rücken schmerzt. Alles schmerzt. Weil du eine hässliche Pickelfresse bist.haucht mir Mason ins Ohr. Irgendjemand versetzt mir einen Schlag gegen den Hinterkopf. Das gibt mir den Rest. Ich falle, bis es nicht mehr weiter nach unten geht. Alles wird kurz schwarz und dann wieder hell. Es klingelt. Lachend verschwindet die Meute und lässt mich zurück. Hilflos liege ich da und warte darauf, dass die Welt wieder Farbe und Form annimmt. Ich warte auf eine schärfere Sicht. Bald wird der Schwindel verschwunden sein und dann werde ich ins Sekretariat gehen, wie fast jeden Tag und mir ein Kühlakku holen. Sie fragen nie nach, warum. Niemandem fällt auf, dass meine Augen von Tag zu Tag immer trauriger werden und mein Gang ein Humpeln annimmt. Nicht einmal den Lehrern. Nicht einmal meinen Eltern. Ich bin ein Niemand. Es ist wie als wäre ich unsichtbar. Nur für die Mobber bin ich es nicht.

《Holly?》fragt eine vertraute Stimme. Es ist die Ärztin. Mein Blick klärt sich und ich kehre wieder zurück. Es ist alles gut. Meine Haut ist rein und ich bin hübsch geworden, von außen zumindest. Von innen jedoch bin ich hässlich, nur sieht das niemand. Sie lachen mich nicht aus. Es ist vielmehr ein nettes Lachen über meine Verpeiltheit. Diese Menschen sind nicht wie diese Kinder. Diese Menschen sind anders. Diese Menschen sind genauso wie ich depressiv. Ich kann förmlich spüren, wie sich meine Barriere wieder aufrichtet.

Kurze Zeit danach habe ich meinen Eltern von der Sache mit dem Mobbing erzählt. Sie haben augenblicklich den Direktor kontaktiert, der mir einen Schulwechsel empfohlen hat. Ich bin auf eine neue Schule gegangen und habe etwas gegen meine Akne bekommen und alles lief viel besser, doch die Beleidigungen habe ich nie vergessen. An schlimmen Tagen kann ich immer noch das scheuernde Geräusch ihrer Hand auf meiner Haut spüren. Manchmal befühle ich immer noch meine Haut um mögliche Pickel zu ertasten. Die Mobber wurden nie für ihr Verhalten bestraft. Nicht einmal die Namen wollte man von mir wissen.

Ich gehe wieder aus diesem dunklen Gedankengang hinaus, so wie die Therapeuten es mir erklärt haben, nur ist es viel einfacher damit klarzukommen, dass man ein Opfer war, als wenn man die Täterin gewesen ist. Wenn man für immer die Täterin bleiben wird.
Meine zitternden Hände am Lenkrad, das Blut am Reifen von dem zerquetschten Körper, es war ein Unfall, sagte man mir, doch ich weiß es besser, es ist meine Schuld, es waren meine Hände am Lenkrad, die das Auto gesteuert haben.

Ich bin wieder in der Cafeteria. Die Blicke wenden sich wieder ihrem Essen zu. Bald zieht jemand Anderes alle Aufmerksamkeit auf sich und ich bin schnell vergessen. Eigentlich möchte ich mich umziehen, doch die Ärztin schüttelt den Kopf. Sie will mich also wirklich sozialisieren. Ich seufze und reihe mich in die lange Essensschlange ein. Hier bin ich nur eine Person. Eine weitere psychisch Gestörte.

Als ich an der Reihe bin, lade ich mir viel zu viel Essen auf den Teller und steuere einen versteckten Tisch in einer kleinen Nische an, an dem noch niemand sitzt. Ich lasse mich auf den hölzernen Stuhl fallen und fange wie wild an zu essen. Man könnte meinen, ich wäre ein Tier. Jetzt habe ich wirklich Hunger. Dabei versuche ich nur irgendwie das Loch zu füllen. Als ich ungefähr die Hälfte hinter mir habe, ertönt eine Mädchenstimme《Ist hier noch frei?》Ich schaue hoch. Nein, nein, nein hätte ich jetzt am liebsten geantwortet, doch stattdessen kommt ein kleinlautes 《Ja.》aus meinem Mund.

Ich hätte mich verfluchen können für dieses Ja, denn jetzt muss ich mit ihr reden. Menschen wollen immer reden, selbst Depressive. Ich habe keine Ahnung von Smalltalk. Ich bin nicht mehr oberflächlich. Ich habe seit einem Jahr nur das Nötigste über die Lippen gebracht. Meine Familie kennt mich gar nicht mehr. Sie wissen nicht, was in mir vorgeht, zu wem ich geworden bin. Sie haben mich nur eingewiesen. 《Wie heißt du?》frage ich um einen Anfang zu machen. 《Summer.》erwidert das Mädchen auf Anhieb und schaut mich dann erwartungsvoll an.《Dein Name?》fragt Summer als sie merkt, dass ich ihren erwartungsvollen Blick nicht deuten kann. Zwei Wochen ohne Menschen sind wirklich eine lange Zeit. Doch eigentlich sind es mehr als zwei Wochen. <<Achso, Holly.》antworte ich und dann ist der Bann auf einmal gebrochen und Summer redet los wie als gebe es kein Morgen. Es wäre schön wenn es kein Morgen geben würde. Ich höre Summer zu. Ihr Gerede ist angenehm. Es lenkt mich ab.

Sie erzählt mir von ihren bisherigen zwei Monaten in der Klinik und wie es ihr nun geht. Ich hätte sie am Liebsten gefragt, warum sie hier ist. Ich hätte sie am Liebsten gefragt wieso sie Suizid beging. Wie kann ein so fröhlich wirkender Mensch in einer Klinik für suizidgefährdete junge Erwachsene landen?《Hübscher Pyjama, muss ich übrigens sagen.》Sie macht sich über mich lustig, aber auf eine nette Art. Sie grinst. Sie lächelt mit ihren strahlend weißen Zähnen.《Danke.》nuschele ich mit vollem Mund. Summer ist zu süß. Ein Lächeln huscht über mein Gesicht. Es ist das erste Mal seit einem Jahr und fünfzehn Tagen.
Ein Beginn.

⌨︎A/N☕︎
So, das wars jetzt erst einmal mit dem 1. Kapitel. Ich ertappe mich immer wieder dabei Holly als nicht depressive Person darzustellen.

Sie wird sich auf jeden Fall noch wandeln und das kleine Lächeln ist erst der Anfang.

Doch zunächst wird sie noch ein bisschen depressiv bleiben:((.

Habt ihr hierdurch schon eine Ahnung von ihrer Vergangenheit?

Wie fandet ihr es bisher?

How to liveTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon