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Mike

Ich trommelte mit den Fingerspitzen nervös neben meinem halb leer gegessenen Teller herum. Es schmeckte fantastisch, aber mein Appetit hielt sich in Grenzen. Achtlos legte ich meine Gabel beiseite und starrte eine Weile aus dem Fenster in die Dunkelheit. Ich musste ihr dringend sagen, wer ich war. Irgendwie hatte ich befürchtet oder vielleicht auch gehofft, dass sie mich erkennen würde und mich kaum getraut zu atmen. Aber wie sollte sie auch? Sie wusste ja nicht wie ich aussah. Sie kannte nicht mal meinen vollen, richtigen Namen. Ich war aufgewühlt, erleichtert, enttäuscht, angespannt und so Vieles mehr. Ihr plötzlich gegenüberzustehen war...ja was denn? Ich hatte genau das doch die ganze Zeit gewollt. Seufzend stand ich auf und kramte in meinem Koffer herum. Irgendwo musste doch...und dann hielt ich ihn in den Händen, den Umschlag mit unseren ersten Briefen. Ganz oben auf, der allererste Brief den Anni mir damals geschrieben hatte. In Deutschland galt eine Anonymitätsfrist von zwei Jahren. Erst danach durfte man, insofern Spender und Empfänger es sich beide wünschten, Kontakt zueinander aufnehmen. Allerdings gab es auch davor schon die Möglichkeit sich anonym über die DKMS Briefe oder Emails zu schreiben und die hatte Anni sehr früh genutzt. Schon ein paar Wochen nach der Spende kam ihr Brief in einem neutralen, nichtssagenden Umschlag bei mir an. Er war von irgendjemand neu abgetippt und auf verräterische Hinweise überprüft worden. Alles was Rückschlüsse auf die Identität meines Spenders zugelassen hätte, war streng verboten. Entsprechende Passagen wurden gestrichen und rausgenommen, nicht einmal Initialen waren erlaubt. Sorgfältig faltete ich ihn auseinander und versuchte mich daran zu erinnern, was ich damals gefühlt hatte.


Hallo,

unzählige Male habe ich bereits begonnen diesen Brief an dich zu schreiben, nur um dann alles wieder zu verwerfen. Deshalb versuche ich jetzt einfach, möglichst zwanglos aufzuschreiben, was mir so durch den Kopf geistert. Zwanglos ist allerdings gar nicht so leicht, wenn man eine lange Verbotsliste neben sich liegen hat. Immerhin darf ich dir mitteilen, dass ich weiblich bin und mein ungefähres Alter verraten. Vielleicht weißt du das aber auch schon? Also von vorne. Ich bin...(piep), zwischen dreißig und vierzig (Ich hoffe das ist vage genug?) Jahre alt und wie es aussieht bin ich also dein Perfect Match. Verrückt, oder? Ich kann nicht leugnen, dass ich neugierig bin auf dich. Wie sieht jemand aus, wie denkt, fühlt und lebt jemand, der den gleichen Genpool besitzt wie ich? Haben wir viele Gemeinsamkeiten, ähnliche Vorlieben oder überhaupt nicht? Sowas frag ich mich immer wieder, seit ich von dir weiß. Wahrscheinlich hast du aber gerade ganz andere Sorgen, als über sowas Belangloses nachzudenken. Ich bin ein eher umtriebiger Mensch, (Beruf, Hobbies usw. stehen ja ebenfalls auf der roten Liste) aber ich hab in den Wochen vor der Spende extra gut auf mich aufgepasst. Ich hab mich selbst wie ein rohes Ei behandelt, weil ich wusste, wie wichtig diese Sache für dich sein würde. Meine Gedanken sind oft bei dir und ich brenne darauf zu erfahren, ob alles gut verlaufen ist und wie es dir jetzt geht. Ich hab mir sagen lassen, dass ich nach drei Monaten, nach einem und nach zwei Jahren darüber informiert werde. Selbst dann, wenn du mir nicht auf diesen Brief antworten wirst. Was sehr schade wäre, aber sicher seine berechtigten Gründe hätte. Was ich dir aber unbedingt vermitteln will ist, dass ich mich über die Nachricht, dir meine Stammzellen spenden zu dürfen, wahnsinnig gefreut habe. Es gab einen konkreten Anlass, warum ich mich vor sechs Jahren registrieren habe lassen und ich hab gehofft, dass der Tag irgendwann kommt, an dem ich jemandem auf diese Art helfen kann. Ich möchte auch nicht, dass du dich bei mir bedankst. Das Gefühl endlich mal was Richtiges und wirklich Wichtiges getan zu haben, reicht mir vollkommen aus. Ich hoffe du erholst dich gut und ich wäre sehr glücklich, irgendwann von dir zu hören.

Dein genetischer Zwilling


Ich hätte diesen Brief schon nach ein paar Stunden auswendig aufsagen können, so oft las ich ihn mir an dem Tag durch. Trotzdem schob ich es immer wieder auf zu antworten. Erst wollte ich darauf warten meiner Spenderin Positives berichten zu können. Und dann als meine Hoffnungen sich wirklich erfüllten und mein Zustand sich stabilisierte, nahm ich mir fest vor ihr zu schreiben. Morgen, übermorgen, spätestens nächste Woche, aber ich tat es nie. Ich erholte mich gut und war voller Tatendrang, aber diese Phase hielt nicht lange an. Die Rückkehr in meinen Alltag, in mein Leben davor, gestaltete sich schwierig. Ich spürte plötzlich, dass ich mehr unter der Situation gelitten hatte, als ich mir selber eingestehen wollte. Und auch in meiner Ehe knirschte es zunehmend. Unsere Beziehung war durch die ganzen Belastungen stark angeknackst, offensichtlich zu stark. Wir gaben uns Mühe, kämpften, aber irgendwann gaben wir auf. Uns fehlte schlichtweg die Kraft und die Zuversicht. Es war schmerzhaft, schwer zu akzeptieren und ich litt immer wieder an körperlicher und geistiger Erschöpfung. Ich hatte mich verändert, fühlte anders, wollte andere Dinge und hatte oft das Gefühl, das niemand mich mehr so richtig verstehen konnte. Zwischendrin dachte ich mit schlechtem Gewissen noch manchmal den Brief und an meine Spenderin. Bestimmt hielt sie mich für wahnsinnig undankbar, auch wenn sie betont hatte, dass sie keine Dankbarkeit erwartete. Eines Abends brachen die Gedanken daran, plötzlich ganz stark über mich herein. Ich konnte nicht schlafen, grübelte. Mir wurde klar, dass das immer wieder passieren würde, wenn ich mich nicht endlich überwinden würde. Ich saß die halbe Nacht an den paar Zeilen. Sie klangen unpersönlich, aber was sollte man bloß jemand schreiben, der einem das Leben gerettet und so ein Geschenk gemacht hatte? Auf keinen Fall sollte sie denken, dass ich nicht genug wertschätzte, was sie für mich getan hatte. Ihr Brief klang lebendig, einfühlsam und trotzdem humorvoll. Alles was ich zustande brachte, las sich verkrampft, gestelzt und aufgesetzt. Unzufrieden löschte ich alles und begann nochmal von vorne.

Wo wir frei sindWhere stories live. Discover now