35.

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Mike

Ich wusste, dass Anni schon eine Weile wieder zurück war. Was sollte ich tun? Warten? Zu ihr gehen? Ich überlegte ob ich ihr zuerst schreiben sollte, aber das machte wenig Sinn. Sie hatte noch nicht mal meine Nachrichten von gestern gelesen. Also wartete ich weiter und gab mir dann einen Ruck, um bei ihr zu klingeln. Auch wenn sie mir die Tür nicht öffnen sollte, dann hatte ich es zumindest versucht. Ich linste beim Vorbeigehen in den Spiegel. Ich fuhr mir durch die Haare, betrachtete die Schatten unter meinen Augen und zog eine Grimasse. Auf dem Weg nach unten, wurde ich nervös, das erkannte ich schon allein daran, dass ich unangenehm schwitzige Hände bekam und sie kaum ruhig halten konnte. Ich war kurz davor wieder kehrtzumachen, und dann sah ich sie. Um ein Haar wär ich einfach an ihr vorbeigelaufen. Ganz allein, saß sie an einem der hinteren Tische in der Kaminbar und tippte stirnrunzelnd irgendwas in ihren aufgeklappten Laptop. Ohne dabei hochzuschauen, nippte sie an einer dampfenden Tasse und stellte sie dann wieder ab. Gedankenverloren zwirbelte sie eine Haarsträhne zwischen ihren Fingern. Ihr Anblick versetzte mir einen schmerzhaften Stich. Sie wirkte konzentriert, aber auch blass und mitgenommen. Ich mutmaßte daraus, dass ihre Nacht ähnlich kurz gewesen war, wie meine. Nur im Gegensatz zu mir, war Anni auch in einem übermüdeten Zustand immer noch wunderschön. Schuldgefühle, brannten in meiner Brust und lähmten mich noch mehr, trotzdem mischte sich jetzt auch ein paar Funken Hoffnung darunter. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie hier saß, beruhigte mich ein bisschen. „Anni?" Ich räusperte mich.

Sie hob den Kopf und als sie mich ansah, verharrte ich in völliger Regungslosigkeit. Ihre Augen wirkten dunkler und größer als sonst. Ihr Blick war überraschend offen und zugänglich, aber auch umso verletzlicher. Mein Mund war trockener als die Sahara und ich brachte kein Wort heraus. Vielleicht war es ein entscheidender Fehler, diesen winzigen Überraschungsmoment nicht für mich zu nutzen, denn ihr Gesichtsausdruck änderte sich rasch wieder. Ich konnte förmlich dabei zuschauen, wie ihre Züge sich verhärteten, von mir distanzierten und sie eine andere Haltung annahm. „Darf ich?", fragte ich und zeigte auf den leeren Stuhl der ihr gegenüberstand. Sie nickte und klappte ihren Laptop etwas hastig zu. „Ich nehme an du hast meine Nachrichten noch nicht gelesen oder?" Ich deutete auf ihr Handy, das auf dem Tisch lag. Sie schüttelte den Kopf. „Ich bin wahnsinnig froh, dass du wieder da bist. Ich hab mir gestern echt Sorgen gemacht." Sie zog die Augenbrauen steil nach oben und ich verzichtete darauf, noch mehr dazu zu sagen. „Es tut mir leid Anni. Kann ich's dir erklären? Also meine Sicht auf die Dinge und wie ich da hineingeraten und nicht mehr herausgekommen bin? Hörst du mir kurz zu?" Ich räusperte mich ein paarmal und musste dann Husten. Mein Hals kratzte unangenehm. Mir war als würde mein ganzer Körper sich gegen diese Situation wehren. Es fühlte sich so unnatürlich und falsch an, dieser Abstand, die Distanz, diese seltsame Stimmung zwischen uns. Ihr Schweigen lähmte mich und es machte mir Angst. Sie hatte immer noch kein Wort gesprochen, keinen einzigen Ton von sich gegeben, ein sehr untypisches Verhalten für Anni. Mir wär lieber gewesen, wenn sie vor Wut getobt und mich zur Schnecke gemacht hätte. „Tu ich doch gerade.", sagte sie dann mit ungewohnt matter Stimme. „Dir zuhören.", ergänzte sie, als sie meine offensichtliche Verwirrung bemerkte. „Aber vielleicht holst du dir auch lieber einen Tee. Bist du krank?" Ich atmete erleichtert auf, denn ich hatte befürchtet, sie würde dieses Schweigen noch länger durchziehen. „Nein, nein nur eine Kröte im Hals oder so." „Frosch." Ihre Mundwinkel zuckten nur für eine Millisekunde, aber es war mir nicht entgangen. Entgeistert starrte ich immer noch auf ihre Lippen. „Was?" „Es heißt Frosch im Hals, nicht Kröte." „Ach so, ja. Ich bin ziemlich schlecht was Sprichwörter und Redewendungen angeht." Ich lächelte vorsichtig, aber sie reagierte nicht darauf, sondern sah mich nur abwartend an. „Ja dann. Tee klingt gut. Bin sofort wieder da." Ich holte mir schnell irgendwas, achtete nicht darauf was ich da in meine Tasse füllte und setzte mich wieder zu ihr. Um Zeit zu gewinnen, wollte ich einen Schluck nehmen und verbrannte mir natürlich die Lippen an dem heißen Wasser. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen, war mir aber sicher, dass sie es genau mitbekommen hatte. Ich wusste immer noch nicht wie ich anfange sollte, versuchte mich mühsam zu sammeln und in mich reinzuhören, um halbwegs richtige Worte zu finden. „Weißt du, als ich mir damals im Krankenhaus immer wieder die Seele aus dem Leib gekotzt habe, gab es einen Punkt an dem ich überlegt habe, ob leben nicht manchmal mehr weh tun kann, als zu sterben. Klingt im Nachhinein sehr übertrieben und wehleidig, aber ich hab in der Zeit ständig über das Sterben nachgedacht. Ich habe unzählige Bücher über Nahtoderfahrungen gelesen, auch weil ich gemerkt habe, dass die Angst nur noch größer wird, wenn man versucht sie zu ignorieren. Und ich hatte Angst, große Angst. Plötzlich spielten die Dinge, die mir sonst immer ein Gefühl von Sicherheit vermittelt hatten, nicht mehr dieselbe Rolle. Keine Geld, keine Besitz, keine Gabe, kein Talent, nicht Mal mein Glaube oder mir nahestehenden Mensch, konnten mich vor der Angst, vor dieser Unkalkulierbarkeit, schützen. Mir hat die Zuversicht, der wirkliche Glaube daran, dass ich es schon schaffen werde gefehlt und das hat mich noch mehr verunsichert. Der Tag, an dem ich erfahren habe, dass es dich gibt, war mein Wendepunkt. Plötzlich war ich voller Zuversicht und Hoffnung. Ich hab diese Chance gespürt und auch, dass ich sie nutzen und unbedingt weiterleben wollte. In der Zeit nach dem Krankenhaus war ich erst voller Euphorie und dann kam vielleicht sogar die härteste Phase. Mein Körper, meine Seele, alles was ich davor war, war verändert und durcheinander. Ein ständiges Auf und ab, aber immer wenn ich an dich und dieses Geschenk gedacht habe, hat mich das demütig werden lassen. Und dann kam irgendwann dein erster Brief und ich hab wahrscheinlich noch nie ein Stück Papier so oft in der Hand gehabt und gelesen. Immer wenn du mir geschrieben hast, hab ich mich gefreut wie ein kleines Kind unterm Weihnachtsbaum. Ich fühlte mich von meinem Umfeld oft unverstanden, aber obwohl ich fast nichts von dir wusste, war das bei dir anders. Als ich dann mehr über dich wissen durfte und wir angefangen haben uns so oft zu schreiben, da wurdest du zu meinem Lichtblick. Draußen spielte die Welt verrückt, aber ich hatte ja dich. Mit dir zu schreiben, war das Schönste und Erfüllendste, was ich seit langem getan hatte. Immer öfter dachte ich, was wäre, wenn wir uns endlich sehen und gegenüberstehen könnten. Was würde dann passieren? Ich konnte meine Gefühle für dich nicht einordnen, manchmal war ich mir sicher, dass ich in dich verliebt war. Dann zweifelte ich wieder, ob ich mir das nicht nur alles einredete, weil ich dir so dankbar war und die ungewöhnliche Situation mich das denken ließ. Du warst mir bald so vertraut und doch ein einziges Fragezeichen. Ein Rätsel, das ich unbedingt lösen wollte. Ich konnte irgendwann kaum noch an was anderes denken. Jedes Mal wenn du dem Thema ausgewichen bist, war ich echt frustriert und als ich wusste dass du aus London zurückkommest, ging mir das überhaupt nicht mehr aus dem Kopf. Ich habe meinen Freund Tom wochenlang deshalb vollgequatscht und gejammert, dass ich dich unbedingt sehen muss. Irgendwann hat er nur noch entnervt gestöhnt: Bitte, bitte fahr da einfach hin, damit das endlich aufhört. Ihre Eltern haben doch ein Hotel, quartier dich doch da für ein paar Tage ein, schau dir an, wo und wie sie lebt und überleg dir, was du weiter tun willst. Wenn du es dir anders überlegst, dann verschwinde einfach wieder. Sie kennt dich ja nicht. Vielleicht freut sie sich auch einfach darüber, dass du da bist. Wer weiß das schon? Aber bitte hör auf dich so verrückt zu machen. „Und das hab ich dann wirklich getan. Es war nur noch diese Special-Suite frei. Ich hab sie gebucht und bin hergefahren und dann bin ich geblieben."

Wo wir frei sindWhere stories live. Discover now