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Mike

Ich raufte mir frustriert die Haare. Dann löschte ich zum hundertsten Mal die gerade getippten Worte. Ganz ähnlich wie in der Nacht, in der ich meinen allerersten Brief an Annie verfasst hatte. Wenn Michi wieder versagte, wenn er es wieder nicht schaffte Anni die Wahrheit zu sagen, konnte Mike das übernehmen? Ihr die Wahrheit schreiben? Einer musste es tun. Beide mussten es tun. Ich spürte immer deutlicher, wie ich unter dieser Last langsam aber sicher einbrach und einknickte, wie fertig es mich machte und wie unmoralisch und falsch das alles war. Es war schizophren, gleichzeitig diese beiden Rollen ausfüllen und spielen zu müssen und ihr nicht zeigen zu können, wer ich eigentlich war. Doch im Prinzip war ich nicht unecht. Ich war ja immer ich, nur eben aus unterschiedlichen Perspektiven. Ich war Michi und ich war Mike und beide liebten Anni. Ich liebte Anni. Ich schloss für einen Moment die Augen und atmete durch.

Hey Anniewhere! Hier bin ich wieder. Wie geht es dir? Ich wartete nervös. Als minutenlang nichts passierte, stand ich auf und holte mir ein Glas Wasser. Ich ging damit zum Fenster und öffnete es. Dieser Nachrichtenton, der mir verriet, dass sie geantwortet hatte, ließ mich erschrocken zusammenfahren, obwohl ich nur darauf gewartet hatte.

Mikey!!! Hey da bist du ja endlich wieder! Ich wollte dir eh gleich schreiben. Ich hab mir nämlich schon Sorgen gemacht. Mir geht es in der Tat sehr gut, aber was ist mit dir?

Mir geht es auch gut, aber ich denke gerade sehr viel nach.

Ist irgendwas passiert? Du bist doch nicht krank oder so?

Nein überhaupt nicht. Ich bin das blühende Leben, also so mehr oder weniger.

Gottseidank. Ich hatte so ein komisches Gefühl. Über was denkst du denn so nach?

Über... weißt du, ich hab einen ganz dummen, fetten Fehler gemacht und ich weiß nicht wie ich das wieder gerade biegen soll. Eine lange Geschichte. Ich weiß nicht ob du so viel Zeit hast?

Um ehrlich zu sein, hab ich gleich ein Date mit zwei sehr bezaubernden, charmanten jungen Männern. Mit meinen Neffen Anton und Ludwig. Aber heute Abend? Ich muss dir auch was erzählen, also schreiben. Irgendwie ist sehr viel passiert in den letzten Tagen und ich merke gerade, wie sehr du mir gefehlt hast.

Du fehlst mir auch Annie. Ich glaube dir ist oft nicht klar, wie wichtig du mir bist. Du und ich, da steckt irgendwas Schicksalhaftes dahinter. Du bist etwas ganz Besonderes für mich. Das darfst du nie vergessen. Melde dich einfach später, wenn du Zeit hast.

Ich klappte den Laptop zu, bevor sie antworten konnte. Meine ungewohnte Emotionalität würde sie sicher verwundern, aber ich konnte nicht anders. Es war höchstens noch eine Sache von Stunden und dann würde sich entscheiden, wie es mit uns weiterging und ob es überhaupt irgendwie weiterging. Die Schlinge zog sich so eng zu, dass ich keine Wahl mehr hatte. Annie hatte irgendwann mal gemeint sie sei gut im Verzeihen, darauf musste ich wohl bauen. Ich fragte mich immer wieder, wie ich wohl reagieren würde, wenn Annie mich so hintergangen hätte? Ich wusste es nicht, wahrscheinlich würde ich mich aufregen, verletzt zurückziehen und...keine Ahnung. Ich hätte mir ja gern eingeredet, dass ich ihr ganz sicher verzeihen würde, alleine schon, weil ich so starke Gefühle für sie hatte. Aber ich war mir nicht sicher und ich war auch nicht Annie. Ich wusste nicht wie es genau in ihr aussah. Dann fiel mir siedend heiß wieder ein, dass auch Michi versprochen hatte ihr eine Nachricht zu schicken. So ging das wirklich nicht mehr lange weiter. Es war nur noch widerwärtig und erbärmlich. Trotzdem nahm ich mein Handy und wechselte auf meine Geschäftsnummer. Zum Glück besaß ich sowas schon, sonst hätte ich mir jetzt in irgendeinem Supermarkt eine Prepaidkarte besorgen müssen. Was für eine unwürdige Schmierenkomödie, doch es ging nicht anders, sie würde meine private Nummer sofort Mike zuordnen und es wäre alles noch schlimmer, wenn sie mir durch irgendeine dumme Unachtsamkeit auf die Schliche kommen würde. Sie musste die Wahrheit wenigstens von mir selber hören. Du musst es ihr persönlich sagen, von Angesicht zu Angesicht. Du musst ihr dabei in die Augen schauen und ihr erklären warum du das gemacht hast. Ich fand mich selber immer unerträglicher.

Wo wir frei sindWhere stories live. Discover now