24.

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Mike

Ein paar Minuten nachdem Simon weggefahren war kam Anni zurück an den Tisch. „Alles klar Annerl?", fragte ihr Vater in die plötzliche Stille hinein. „Freilich. Ich freu mich jetzt auf meinen Kaiserschmarrn. Oder hast du mir wieder alles weggefressen Jakob?" Sie lächelte und legte ihrem Bruder die Hand auf die Schulter. Es war das erste Mal, dass ich so eine Art vertrauliche, fast schon liebevolle Geste zwischen den beiden beobachtete. Es wirkte fast so als hätte sie das Bedürfnis, sich an ihm festzuhalten. Es überraschte mich und offensichtlich auch Jakob selbst, der etwas verlegen vor sich hin grummelte. Ich schob mir noch eine Gabel in den Mund. Es schmeckte derart himmlisch, dass ich bei jedem Bissen am liebsten die Augen genüsslich verdrehen wollte. Ich hatte eine ausgesprochene Schwäche für Kaiserschmarrn, insbesondere für Marlenes Kaiserschmarrn. In diesen Genuss war ich schon ein paar Mal gekommen. „Jetzt setzt dich halt hin und iss endlich, Anni. Des is wirklich ungemütlich wenn du da so rumstehst." Die Kaiserschmarrnkönigin klang ein bisschen verärgert. Warum war mir nicht ganz klar. Anni zögerte einen Moment und in ihren Augen blitzte es aufmüpfig. Ich hatte den Eindruck, dass sie was dazu sagen wollte. Doch dann fiel ihr Blick auf mich und sie setzte sich wortlos hin und löffelte eine Mini-Portion auf ihren Teller. Sie stocherte etwas lustlos mit der Gabel darin herum und beteiligte sich kaum an den Gesprächen am Tisch. Es wurde mit jeder Minute deutlich kühler. Die Sonne würde bald untergehen. Umso mehr der Himmel sich rot einfärbte, umso stärker begann ich zu frösteln. Meine Finger waren irgendwann ganz klamm und es ging wohl nicht nur mir so. Als wir mit dem Essen fertig waren, begannen wir zügig abzuräumen, dann bedankte ich mich bei Marlene, schulterte meinen Rucksack und verabschiedete mich. Ich rieb meine Hände aneinander um sie ein bisschen aufzuwärmen, als Anni mir im Hotelflur entgegenkam. „Saukalt geworden auf einmal, gell?" Ich nickte. Ihr Lächeln war zurückhaltend und lange nicht so überzeugend wie sonst. Ihr ganzer Ausdruck war ein anderer, verschlossener und in sich gekehrter. Ihre Bewegungen und selbst ihre Worte wirkten angestrengt. „Deine Wangen leuchten ja ganz rot.", sagte sie und ihr Lächeln wurde breiter und aufrichtiger. „Ich kann's mir denken. Ist immer so wenn mir kalt ist." Sie kaute auf ihrer Unterlippe herum. „Wenn du magst, besorgen wir dir noch Holz für deinen Kamin, dann hast du es wärmer und gemütlicher da oben." Ich fragte mich ob sie sich noch daran erinnerte mich eingeladen zu haben. Sie wirkte nicht abweisend, aber auch nicht mehr so, als ob sie große Lust auf Gesellschaft hätte. „Wir verschieben das einfach auf einen anderen Tag oder Abend, ok?", schob sie hinterher als ob sie in meinen Gedanken genau mitlesen könnte. „Ich bin... wahnsinnig müde. Will nur noch duschen und schlafen und dir geht es sicher ähnlich." Ich nuschelte Zustimmung, auch wenn ich mich wirklich niemals zu müde für Anni fühlen würde. Selbst jetzt nach diesem langen Tag, an dem wir fast jede Minute miteinander verbracht hatten, gefiel mir die Vorstellung sie gleich nicht mehr um mich zu haben, überhaupt nicht. „Ich sag einfach Jakob, er soll dir was hochbringen." „Nein Anni, lass mal. Der ist doch eh schon so durch heute. Das eilt ja nicht. Eine warme Dusche tuts auch. Deine Familie macht eh ständig viel mehr für mich, als nötig." Sie zuckte mit den Schultern. „Du bist ja auch unser Gast und da wir im Moment fast keine Gäste haben, hast du halt so eine Art VIP-Status, aber gut dann kümmern wir uns morgen drum. Dann wünsche ich dir einen schönen Abend." Sie klang für meinen Geschmack viel zu förmlich. „Dir auch nen schönen Abend.", murmelte ich und stapfte die Treppe nach oben. Ich spürte deutlich, dass sie ihre Ruhe brauchte und wollte. In meinem Zimmer legte ich den Rucksack ab und stellte mich unter die warme Dusche. Ich drehte das Wasser so heiß, das alles dampfte und konnte mich eine Ewigkeit nicht von dem warmen Wasserstrahl losreißen. Mit einem Handtuch wischte ich den vom Wasserdampf beschlagenen Spiegel ab und fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. Der Anblick meines Spiegelbildes war für einen Moment nur schwer zu ertragen. Manchmal konnte ich mir selber kaum noch in die Augen sehen, so schlecht fühlte ich mich. Du musst es ihr sagen, ganz dringend. So schnell wie möglich. Ich schlüpfte in eine schwarze Jogginghose und ein dunkelblaues T-Shirt, das extrem nach Blumenwiese und Frühlingsfrische roch. Ich hatte mein Zeug in der Waschmaschine im Keller selbst gewaschen und weil ich so wenig Ahnung davon hatte, anscheinend viel zu viel Waschmittel und Weichspüler reingekippt. Geh zu ihr und sag ihr die Wahrheit, am besten sofort. Du kannst so nicht weitermachen. Ich versuchte diese innere Stimme, mein schlechtes Gewissen zu ignorieren. Annie hatte selber gesagt, dass sie müde sei und nur noch schlafen und duschen wollte. Dieses Gespräch mit Simon, worum auch immer es da gegangen war, hatte sie sicher mehr mitgenommen, als sie zugeben wollte. Es war ein seltsames Gefühl sie mit ihm zu sehen. In meinem Kopf ging das nur schwer zusammen und die Energie zwischen den beiden war äußerst widersprüchlich. Mit Sicherheit hatten sie irgendwann mal ein sehr attraktives Paar abgegeben. Gerade weil sie so grundverschieden waren. Er strahlte auf Anhieb etwas extrem Sympathisches, Vertrauenerweckendes und Tiefenentspanntes aus, während Annie so eine lebhafte, spontane und energiegeladene Persönlichkeit war. Es war durchaus vorstellbar, dass sich das gut ergänzen konnte, dass er sie ein stückweit geerdet und sie etwas Feuer und Schwung in sein Leben gebracht hatte. In winzigen Bruchstücken konnte man, diese spezielle Art von Vertrautheit immer noch erkennen und spüren, die nur Menschen besaßen, die sich einmal sehr nahe gestanden hatten. Das Leben war manchmal schon seltsam und eigenwillig und voller unvorhersehbarer Umwege. Gerade weil Anni mir so viel bedeutete, machte mich der Gedanke traurig, dass sie so eine Liebe verloren hatte und mit diesem Verlust nun leben musste. Seltsamerweise fühlte ich kaum Eifersucht, sondern mir tat es weh, weil es ihr offensichtlich auch immer noch weh tat und weil ich die Hintergründe ein bisschen kannte. Und weil du ihr auch wehtun wirst. Was bringt es ihr oder dir das noch weiter hinauszuzögern? Du wirst immer Gründe finden warum du es ihr nicht sagen kannst oder willst. Mit jeder Lüge, mit jeder Annäherung, mit jedem Stück, dass sie dir mehr vertraut und dich in ihr Leben lässt, wird es nur noch schlimmer. Du bist echt ein Feigling und du hast schon viel zu lange damit gewartet.

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