29.

128 19 5
                                    

Mike

Frisch geduscht und warm eingepackt stapfte ich über den Hof. Es schneite immer noch still und bedächtig vor sich hin. Eine dünne Schneeschicht bedeckte bereits den Boden und ich betrachtete nachdenklich die Spuren, die ich darauf hinterließ. Mit einer Hand fing ich ein paar Flocken auf. Sie waren groß und sehr weich, fast wie kleine Wattebauschen. Kinderschnee, dachte ich. Richtiger Bilderbuch-Kinderschnee. Kinder hatten ein ganz anderes Verhältnis zu Schnee, als Erwachsene. Sie sahen nie die Unannehmlichkeiten oder Gefahren, die er mit sich bringen konnte. Nicht die Verkehrsbehinderung, die Glätte oder die Arbeit des Schneeräumens, nein Kinder sehnten sich regelrecht nach Schnee. Für sie bedeutete er einfach nur Spaß und Freude. Jedes Jahr wenn der erste Schnee fiel, erinnerte er mich an meine Kindheit und an die Unbeschwertheit solcher Schneemomente. Manchmal schaffte er es sogar, dieses verborgene Kind in mir wieder zum Vorschein zu bringen. Heute nicht. Dafür lastete mir zu viel auf der Seele, aber schön war er trotzdem. Marlene kam mir entgegengeeilt, den Kopf eingezogen und eine lange Strickjacke eng um den Körper geschlungen. Sie winkte mir schon von weitem zu. Ihre Gegenwart hatte sofort etwas sehr Beruhigendes, etwas das nur Menschen ausstrahlen konnten, die so geerdet, unaufgeregt und bei sich selbst waren wie sie. „Servus Michi. Dich hab ich ja schon lange nicht mehr gesehen. Bewunderst du auch unseren ersten Schnee?" Sie wischte sich schmunzelnd die kalten Flocken aus dem Gesicht.

„Ja genau." Ich zögerte, beschloss aber dann bewusst bei der Wahrheit zu bleiben. Ich hatte mehr als genug von der ganzen Lügerei. „Ich bin mit Anni zu einem kleinen Spaziergang verabredet.", erklärte ich also wahrheitsgemäß. „Ach wie schön. Dann wünsch ich euch ganz viel Spaß. Ich muss wieder rein zu den Buben, sonst stellen die wieder einen Haufen Schmarrn an." Sie lächelte selig. Ich konnte nicht auseinanderhalten, ob sie sie sich über ihre Enkel oder meine Pläne so freute. Sie flitzte an mir vorbei, zurück ins Hotel und ich ging rüber zu Annis Wohnung. Der Schnee rieselte in meinen Nacken und kitzelte auf meinem Gesicht, als ich vor der Tür stand und klingelte Es dauerte einige Sekunden bis sie öffnete. Ihr Gesicht war erhitzt. In der einen Hand hielt sie eine Haarbürste und mit der anderen irgendwie das Telefon fest, dass sie zwischen Schulter und Ohr eingeklemmt hatte, um mir die Türe öffnen zu können. „Ja, Oma freilich geht des.... Nein gar kein Problem. Ich wollte eh gleich noch eine Runde spazieren gehen, das passt perfekt und danach bring ich dir die Sachen einfach vorbei... Bei der Vroni?... Ja liegt ja aufm Weg.... Ja dann bis nachher. Pfiad di Oma!" Sie legte auf und gab mir einen hastigen Kuss auf die Backe. „ Boah, bist du kalt. Entschuldige, das war meine...." „Oma.", grinste ich. „Ich soll ihr noch ein paar Sachen fürs Adventskranzbinden sammeln und vorbeibringen. Zapfen, Beeren, Moos und so Zeug. Das kann ich super mit unserem Spaziergang verbinden, falls noch nicht gleich alles zugeschneit ist. Muss nur noch kurz meine Haare fertig föhnen. Dauert nur eine Minute." Sie hetzte ins Bad und rief durch die halboffene Tür: „Setz dich ruhig hin und nimm dir was zu trinken. Ich beeil mich." „Alles gut. Kein Stress. Lass dir Zeit." Ich nahm mir ein Glas Wasser und ging herum. Ich mochte Annis Wohnung richtig gerne. Sie besaß diese Art von persönlicher Note, die meiner eigenen noch fehlte. Sie war irgendwie besonders, anders, aber nur so ein bisschen. Sie war bunt zusammengewürfelt, aber dezent und trotzdem irgendwie strukturiert und geradlinig. Aufgeräumt, aber nicht steril und sehr gemütlich. Schwer zu beschreiben, ebenso wie Anni als Person, das auch war. Sie steckte voller persönlicher Dinge, die von ihren Reisen erzählten, aber das fiel einem eigentlich erst bei genauerem Hinsehen auf und wenn man Annis Geschichten ein Wenig kannte. Jedes Mal wenn ich da war, schaute ich mir das Foto von Anni und ihrem Bruder an, das im Flur zwischen vielen anderen hing. Ein Gipfelfoto auf dem sie beide übers ganze Gesicht strahlten. Sie hatte mir erzählt, dass es nur wenige Tage vor seinem Absturz aufgenommen worden war. Sebastian überragte Anni deutlich. Sie reichte ihm kaum bis zur Schulter. Er war auch ein viel hellerer Typ mit hellblonden Haaren. Man konnte aber durchaus einige Gemeinsamkeiten erkennen, wenn man genau hinsah. Zum Beispiel die winzigen Sommersprossen auf der Nase. Das Spannendste aber war die Ähnlichkeit in ihren Augen. Sebastians Augen waren wie eine exakte Spiegelung von Annis. Er wirkte so sportlich, fit und voller Leben auf diesem Bild, dass man nur schwer fassen und glauben konnte, was kurz danach passiert war. Ein falscher Schritt und vorbei...ich schloss die Augen bei der Vorstellung. Vielleicht war es ein kleiner Trost, dass es passiert war, als er dabei war etwas zu tun, was er offensichtlich sehr liebte. Auch wenn natürlich viele Jahrzehnte zu früh, war es trotzdem etwas, was nicht vielen Menschen bestimmt war. Anni hatte mir auch erzählt, dass Jakob seit Sebastians Unfall die Berge konsequent mied. Er verarbeitet das nicht richtig. Zwischen Sebi und ihm gab es viele Konflikte, das macht es bestimmt nicht leichter und er spricht auch nie darüber. Mit niemandem. Manchmal denke ich er hat einfach keinen Zugang zu seinen eigenen Gefühlen und deshalb ist er vielleicht auch so wie er ist. Darunter hing ein altes Kinderfoto von Anni und beiden Brüdern. Ich wusste es nicht genau, vermutete aber, dass es sich bei dem dritten Jungen um Simon handeln musste. Annis Haare waren damals eine wilde rotblonde Lockenmähne und sie streckte ihr Gesicht keck und unbeschwert Richtung Kamera. Die restlichen Bilder waren hauptsächlich Landschafts- und Naturaufnahmen. Anni war nur noch auf wenigen zu finden und selbst dann nur von hinten. Schwimmend in einem grün-türkis schillernden Bergsee, mit ausgebreiteten Armen unter einem tropischen Wasserfall und im Eingang eines hell erleuchteten Iglus, umgeben von Schnee und Dunkelheit. „Inspizierst du schon wieder meine Fotos?" „Ja. Sie sind echt richtig gut. Hast du die alle gemacht?" „Die meisten. Also eigentlich alle, auf denen ich nicht zu sehen bin. Ich fotografiere sehr gerne, spiele aber nicht so gerne das Model. Eigentlich mag ich es überhaupt nicht fotografiert zu werden." „Warum?" „Weiß nicht. Ich fühle mich nicht so wohl dabei und meistens findet man sich ja selber eh nie wirklich gut auf Bildern. Solang es spontan ist und ich nicht das Gefühl habe irgendwie posieren zu müssen, geht's schon, aber alles andere ist eher eine Qual für mich." „Welches davon ist dein Lieblingsfoto?" Ohne zu überlegen zeigte sie auf ein Schwarz-Weiß-Porträt „Darauf bin ich ziemlich stolz." Ich betrachtete es genauer. Es zeigte eine alte Frau mit einer Schüssel Kirschen vor sich. Ihre Hände waren faltig, erzählten von einem offensichtlich sehr arbeitsreichen Leben. Die leicht nach oben gezogenen Mundwinkel zeigten ein gütiges, aber auch zwiegespaltenes Lächeln. Die Art wie sie ihren Kopf hielt und das Kinn nach vorne reckte, hinterließ den Eindruck, dass sie eine durchsetzungs- und willensstarke Person sein musste. Jemand der nicht leicht zu erschüttern war. Ihre Gesichtszüge waren klar und gestochen scharf. Der Focus lag auf ihren Augen. Während alles andere an ihr alt, müde und verbraucht wirkte, waren ihre Augen hellwach und blutjung. Offen, lebendig, abenteuerlustig. Das Foto war wie ein Beweis dafür, dass der Körper zwar altern und langsam zerfallen, aber die Seele und der Kern eines Menschen davon völlig unberührt bleiben konnte. „Das ist unglaublich gut. Das hast du gemacht?" Sie zuckte etwas verlegen mit den Schultern. „Ein Glückstreffer und es liegt mehr an meiner Oma. Sie ist ein perfektes Motiv, auch wenn sie das überhaupt nicht so sieht."

Wo wir frei sindWhere stories live. Discover now