22.

105 17 5
                                    

Mike

„Was für ein Glück wir doch heute haben.", seufzte ich leise und streckte mich satt und zufrieden auf der Decke aus. Aus den Augenwinkeln heraus betrachtete ich Anni neben mir. Ein rotgoldener Schimmer lag auf ihren geschlossenen Augenlidern, auf ihren Haaren und auf ihrem ganzen schönen Gesicht. Da alle Bänke und Sitzgelegenheiten rund um die Hütte, jahreszeitenbedingt, im kalten und feuchten Schatten lagen, hatte sie kurzerhand so eine ultraleichte Outdoordecke aus ihrem Rucksack gezaubert und auf einem sonnigen Stück Wiese ausgebreitet. Sie hatte ihr Essen mit mir geteilt, denn alles was sie dabei hatte, sah tausendmal verlockender aus, als mein runzliger Apfel und die zwei zerdrückten Müsliriegel. Sie blinzelte kurz. „Ja, dass das Wetter heute so mitspielt ist wirklich großes Glück." Ich ließ es so stehen, auch wenn ich natürlich nicht nur über das Wetter gesprochen hatte. Sie fing an mir die verschieden Optionen für den Rückweg aufzuzählen „Du willst jetzt schon zurück? Gar kein Gipfel mehr?"

„Mmm weißt du, natürlich gäbe es da Optionen, die Hütte hier ist sogar so eine Art Ausgangspunkt für größere Wanderungen, aber wir haben Spätherbst und es wird sehr früh dunkel. Viele Wege sind rutschig und feucht, weil sie die meiste Zeit im Schatten liegen und..." „ich bin zu unerfahren und nicht fit genug dafür meinst du?"

„Es wäre einfach nicht vernünftig. Das hat nicht unbedingt was mit dir zu tun. Ich würde es auch allein höchstwahrscheinlich nicht machen. Nicht mehr."

Ich hob den Kopf. Sie lag so entspannt da, also ob sie schlafen würde. „Und früher schon?" Ich wickelte mir eine Strähne ihrer Haare um den Finger und versuchte die Farbe zu definieren. Es gelang mir nicht so richtig, aber sie ähnelte ein wenig dem Herbstlaub, das überall von den Bäumen rieselte.

„Ja, ich war durchaus schon mal risikobereiter, aber ich hab dazugelernt und bin besonnener und vorsichtiger geworden. Schon allein meinen Eltern zu Liebe."

„Wegen deinem Bruder?" Es erschien mir sehr plausibel, dass bei Eltern die ein Kind verloren hatten, die Sorge um die verbliebenen Kinder extrem anstieg. Das war sicher nicht leicht, vor allem bei Annie nicht, die ständig allein die Welt bereiste. Sie sagte eine Weile nichts und reagierte nicht auf meine Frage. Sie zeigte überhaupt keine Regung, fast so als würde sie nicht mal mehr atmen.

„ Es ist so. Mein Bruder ist abgestürzt. Gar nicht so weit von hier. Er war ein erfahrener, umsichtiger Bergsteiger und trotzdem ist genau das passiert, wovor wir uns im Grunde alle immer fürchten. Man weiß ja, dass es dieses Risiko gibt, aber bei Sebi hätte wirklich keiner von uns damit gerechnet. Er war einer der Besten, aber eben nie unvernünftig oder zu ehrgeizig. Eigentlich wär ich damals sogar dabei gewesen. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt endlich eine Watzmannüberschreitung zu wagen, das ist in unserer Gegend so die Königsdisziplin. Er hat sich aber ewig geweigert mich mitzunehmen. Ich kann aber sehr hartnäckig sein, wenn ich etwas unbedingt will und irgendwann ist er eingeknickt. Allerdings mit der Bedingung, dass ich vorher mit ihm trainiere. Monatelang hat er mich also durch die Berge gescheucht und zum Klettern mitgeschleppt, bis er der Meinung war, dass ich bereit dafür wäre. Doch genau in der Nacht davor wurde ich krank. Nur ein bisschen Schnupfen und Husten, damals eigentlich noch keine große Sache. Nicht so wie jetzt. Doch Sebi hat mich nur angesehen und den Kopf geschüttelt. Anni, wir brauchen gar nicht erst darüber zu diskutieren. Unsere Abmachung lautete nur mit ordentlicher Vorbereitung und unter perfekten Bedingungen. Du kannst da nur hoch, wenn du hundertprozentig fit bist und das bist du nicht. Deshalb bin ich an diesem Tag zu Hause geblieben, wegen einem kleinen Scheiß-Schnupfen. Ich hab heimlich geweint vor Enttäuschung und auch weil ich so sauer war, auf mich und meinen Körper. Ich bin eigentlich fast nie krank. Dass mich das so runtergezogen hat, kommt mir im Nachhinein ziemlich dumm und oberflächlich vor. Aber ich hatte ja noch keine Ahnung, dass das ein paar Stunden später, keine Rolle mehr spielen würde. Dass ich gerade meinen Bruder das letzte Mal gegenüberstand." Ihre Stimme blieb ruhig und unverändert."

Wo wir frei sindWhere stories live. Discover now