Wo wir frei sind

7.

Mike

Es war nichts los auf der Alm. Um die Jahreszeit wäre sie allerdings auch geschlossen gewesen, wenn wir nicht mitten in einem Lockdown gesteckt hätten. Ab und zu kamen ein paar E-Biker vorbei, ansonsten war es sehr friedlich und ruhig. Ich biss mit großem Appetit in mein Käsebrot, während Annie an einem knallroten Apfel herumknabberte. Ich musste damit aufhören sie in Gedanken Annie zu nennen. Irgendwann würde mir das noch herausrutschen und dann...Ich wischte den Gedanken schnell beiseite, wollte diese Idylle mit allen Sinnen genießen und mir den Tag nicht mit Grübeleien vermiesen. Wir saßen in der warmen Herbstsonne, mit dem Rücken an die Almhütte gelehnt. Anni streckte ihre nackten Zehen ins Gras und seufzte von Zeit zu Zeit wohlig. Sofort nach unserer Ankunft auf der Alm, hatte sie die Wanderstiefel ausgezogen und ihre Füße in das eiskalte Wasser des Brunnens gehalten. Seitdem spazierte sie barfuß herum. „Ist das nicht etwas, was man nie tun sollte? Die Schuhe während einer Wanderung ausziehen?", fragte ich etwas verwundert. „Ja. Das behaupten manche. Juckt mich aber nicht. Ich hab deshalb noch nie Blasen bekommen und meine Füße schwellen auch nicht an. Ich liebe es barfuß über die Almwiesen zu laufen, schon immer", meinte sie nur schulterzuckend. Ihre Unbekümmertheit tat gut und färbte immer mehr auf mich ab. Ich hatte mich seit einer Ewigkeit nicht mehr so leicht und unbeschwert gefühlt. Zumindest so lange mein Gewissen mich in Ruhe ließ. Ich redete mir ein, wenn ich Anni erst besser kennengelernt hätte, würde es mir leichter fallen mit ihr über alles zu sprechen, aber davon war ich selber noch nicht überzeugt. Ich hatte mich so danach gesehnt sie endlich kennenzulernen und es war schön und aufregend dass das nun endlich passierte. Trotzdem war mir die ganze Zeit bewusst, dass es nicht ok war sie zu  belügen, ihr was vorzuspielen und es ohne ihre Zustimmung zu tun. 

„Was sind das eigentlich für kleine Hütten überall?", fragte ich um Zerstreuung bemüht. „Die Kaser? Das sind einfach ein paar Sennhütten, die den Almbauern gehören, die sich das Gebiet hier oben teilen. „Sieht ja tatsächlich aus wie bei Heidi auf der Alm. Ich rechne schwer damit, dass der Almöhi jeden Moment ums Eck kommt." Ich grinste Anni zu und erst als ich bemerkte wie sich ihre Pupillen überrascht weiteten und sie die Stirn in nachdenkliche Falten legte, wurde mir bewusst, was ich da gerade rausgehauen hatte. Mir war genau das passiert, wovor ich mich schon die ganze Zeit fürchtete. Diese Heidisache hatte sie Mike heute Morgen geschrieben und mit keiner Silbe Michi gegenüber erwähnt. Mein Puls begann panisch zu rasen. Einen Moment lang betrachtete sie mich mit ernster, erstaunter und etwas irritierter Miene und als sich ihre Lippen dann zu einem strahlenden Lächeln verzogen, wär ich vor Erleichterung fast von der Bank gekippt. „Ja oder? Genau das denk ich auch immer, wenn ich hier oben bin. Hier wird auch manchmal für den Bergdoktor gedreht. Wir befinden uns tatsächlich schon wieder in einer kitschigen Filmkulisse."

„ Nun...es gibt Schlimmeres.", entgegnete ich möglichst gelassen und ungerührt und biss hastig in mein Brot. Ich verfluchte mich innerlich für meine Unachtsamkeit. Das hätte auch schief gehen können.

„Du sag mal, würde es dich stören hier eine Weile zu Warten? Ich hätte gerade Lust noch einen Abstecher auf den Litzlkogel zu machen. Du könntest natürlich auch mitkommen, wenn du möchtest. Ist nicht mehr weit, aber der Weg ist nicht ganz Ohne und jetzt im Herbst können manche Stellen, die im Schatten liegen, etwas rutschig sein. Es gibt eigentlich nur eine etwas heikle Passage, die ist aber sehr gut seilversichert. Die Aussicht dürfte heute bombastisch sein. Wir können aber auch gleiche den Rückweg antreten, wenn dir das lieber ist. Ich muss nicht unbedingt..."

„Ach klar machen wir das noch. Ich bin dabei." Ich richtete mich auf. Mir war alles Recht, was sie und auch mich von meinem Missgeschick ablenken konnte.

„Sicher? Du musst wirklich nicht..."

„Ganz sicher."

„Ok. Aber lass dir Zeit. Ich muss erst meine Schuhe wieder anziehen."