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Mike

Anni schwieg die nächste halbe Stunde fast durchgehend. Erst als wir einen großen und vollkommen leeren Parkplatz durchquerten, wandte sie sich wieder an mich. „Im Sommer ist dieser Parkplatz meistens brechend voll, kannst du dir gar nicht vorstellen was hier manchmal los ist."

„Will ich gar nicht, glaub ich. Ich finde es perfekt, so wie es jetzt ist." Sie hielt etwas abrupt an und ihre Augen glitten überrascht und dann sehr forschend über mein Gesicht. In dem goldenen, herbstlichen Morgenlicht wirkten sie noch grüner als sonst und die Intensität mit der sie in mich eindrangen, machte mich schlagartig unsicher. Sie waren wie ein Sicherheits-Scanner der mich komplett durchleuchten wollte. „Und wo gehen wir jetzt hin?", stammelte ich schließlich.

Sie verharrte noch einen Moment so, dann löste sie ihren Blick. „Fängst du schon wieder damit an? Aber was soll's, du gibst eh keine Ruhe.  Wir befinden uns hier im wunderschönen Wimbachtal." Sie streckte den Arm nach oben und deutete eine Drehung an. „Also zwischen Watzmann und Hochkalter. Und du wirst heute noch in einem Fluss ohne Wasser laufen."

„Hä? Gibt's sowas überhaupt? Ist der ausgetrocknet? "

Anni lächelte. „Ich erklär dir das dann vor Ort, dann erkennst du gleich, was ich meine. Erstmal müssen wir jetzt den Hügel da hoch, denn da oben liegt der Eingang zur Wimbachklamm."

„Eine Klamm? Sowas liebe ich sehr. Wildes Wasser und so."

Sie grinste. „ Ja wer nicht? Wird oft besungen in unserer Gegend." Ich sah sie fragend an.  ,, Es gibt ein österreichisches Lied, das exakt so heißt und bei uns bei immer auf Hochzeiten geträllert wird. Das kannst du aber nicht kennen und du würdest eh kaum ein Wort verstehen. Freu dich lieber nicht zu früh. Die Klamm ist für Besucher geschlossen. Nicht nur wegen dem Lockdown, sondern generell immer ab Anfang November. Aber ich schau mal was ich machen kann. Ich war auch selbst schon viel zu lange nicht mehr da. Es ist aber auch nur eine kleine Klamm, vielleicht so zweihundert Meter lang." Mir lagen sofort noch mehr Fragen auf der Zunge, aber entschied mich dafür die Klappe zu halten, abzuwarten und ihr brav zu folgen. Oben begrüßte uns ein vielstimmiges, lautes Mäh. Dutzende Schafe standen hinter einem Zaun mit einem offenen Stall. Daneben war eine große Holzhütte, auf der Wollstadl stand. Ich lugte durchs Fenster und kombinierte, dass das wohl so eine Art Hofladen sein musste.

„Wartest du kurz hier? Ich frag mal kurz bei Karin nach wegen der Klamm. Ihr gehören die Schafe und auch der Stadl. Da holt man sich normalerweise auch die Tickets für die Klamm. Sie ist eine gute Freundin von meiner Mama und vielleicht haben wir ja Glück.

„Klar.", erwiderte ich und beugte mich über den Zaun zu den Schafen. Sie glubschten mich neugierig an und ich streckte die Hand aus um eins zu kraulen: „Stopp! Das würd ich lieber nicht tun.", rief Anni und zog mich etwas unsanft am Arm von dem Gatter weg. Im selben Moment kam etwas zwischen den Schafen hervorgeschossen und rannte bellend, knurrend und zähnefletschend auf mich zu. Ich zuckte erschrocken zusammen und presste die Hand auf meine Brust. „Herrgott, hast du mich jetzt erschreckt.", japste ich in Annis Richtung. „Erschreckt? Ich ? Ich hab dir gerade dein Leben gerettet, Schätzchen. Die Hunde sind sowas wie die Bodyguards der Schafe. Die nehmen ihren Job sehr ernst und verstehen keinen Spaß, wenn man ihnen zu nahe kommt. Sie sind immer zusammen. Im Sommer auf den Bergweiden und jetzt im Spätherbst und Winter hier. Jeder der ihnen zu nahe kommt... Sie machte eine unmissverständliche Geste mit der Hand an meinem Hals, als ob sie mir die Kehle durchtrennen würde. Dabei sah sie mich todernst an, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken. „Game Over. Du verstehst?" Ich warf einen skeptischen Blick auf die drei riesigen Hunde, die wie kuschelige Golden Retriever in schneeweiß aussahen. „Die schauen ja selber aus wie Schafe. Kein Wunder, dass ich sie nicht gesehen habe." Anni zog die Augenbrauen etwas amüsiert nach oben. Sie deutet auf die roten Warnschilder die überall am Zaun angebracht waren und deutlich vor den Hunden warnten „Kann ich dann jetzt gehen oder stellst du dann irgendeinen anderen Blödsinn an?"

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