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Anni

„Und denk nochmal ganz in Ruhe über alles nach, ja!?", bat Vroni mich seufzend und strich sich zum hundertsten Mal eine widerspenstige, dunkle Locke hinters Ohr. „Brich nichts übers Knie, was du später bereuen könntest." Hilflos zog ich die Schultern nach oben. „Ich bin noch viel zu unentschlossen für sowas. Ich hab im Moment gar kein Gefühl mehr für richtig oder falsch. Und solange das so bleibt, kann ich auch keine Entscheidungen treffen." Ich umarmte sie zum Abschied. „Danke au jeden Fall, dass du deinen ganzen Nachmittag geopfert hast um dir mein Gejammer anzuhören." „Erstens war das kein Gejammer, zweitens hab ich sowieso die ganze Zeit überhaupt gar nichts vor und drittens ist es immer schön wenn du kommst, selbst wenn der Anlass kein Grund zur Freude ist." Ich hätte sie am liebsten nochmal gedrückt und ihr gesagt, wie lieb ich sie tatsächlich hatte, wie gut es mir getan hatte bei ihr in der Küche zu sitzen, während das Feuer im Kachelofen gemütlich vor sich hin flackerte und das ganze Haus nach Kinderpunsch und Plätzchen roch. Es war so erleichternd, mir alles von der Seele geredet zu haben, was mich beschäftigte. Vroni war pragmatischer und besonnener, gleichzeitig aber auch weniger pessimistisch und misstrauisch, als ich. „ Glaubst du ihm eigentlich? Also, als ihr miteinander gesprochen habt, hattest du da das Gefühl er ist ehrlich zu dir?" Ich schaute sie verwundert an. „Ja absolut.", antwortete ich dann ohne zu überlegen." Wenn ich rein auf mein Gefühl hören würde, jedes einzelne Wort. Aber eventuell täusche ich mich auch selber, schon deshalb, weil ich ihm einfach viel zu gerne glauben will, verstehst du? Weil ich das was ich ihn ihm gesehen habe, was ich gefühlt habe, ich hätte es sehr gerne wieder zurück. Exakt so wie es war und deshalb trau ich mir selber im Moment nicht mehr. Ich kann das noch nicht richtig sortieren in meinem Kopf. Ich war permanent hin und hergerissen, als ich ihm gegenübersaß. Es war...ich bin nicht mal wütend. Ich bin einfach nur verwirrt und sehr traurig. Er hat mich ganz nebenbei, auch um einen Moment betrogen, der mir sehr wichtig gewesen wäre. Das wird mir immer mehr bewusst. Ich hab mir in der ganzen Zeit immer wieder ausgemalt, wie es wohl wäre Mike zu treffen. Immer wieder hab ich mir Videos angeschaut oder Berichte durchgelesen, über diese ersten Begegnungen von Spender und Patienten. Wie es ist, wenn sie zum allerersten Mal aufeinandertreffen. Zwei Menschen, die sich im Prinzip zwar nicht kennen, die aber so unheimlich viel verbindet. Das ist eigentlich immer extrem emotional und rührend. Auch wenn ich großen Respekt davor hatte, ich wollte das unbedingt erleben- irgendwann. " Vroni runzelte nachdenklich die Stirn. „ Weißt du. Ich hab dir die ganze Zeit genau zugehört und mir sind einige Dinge aufgefallen, Anni. Eigentlich wollte ich nicht groß meinen Senf dazugeben, weil du selber wissen musst, was für dich richtig ist. Vielleicht kann ich dir aber doch ein paar Aspekte vor Augen führen. Du hast anscheinend das Gefühl, dass Mike für dich plötzlich nicht mehr greifbar ist, aber so ist es ja nicht wirklich. Er ist nämlich genau aus dem Grund hier, weil er dich unbedingt sehen wollte. Überleg mal was er da auf sich genommen hat , nur um dir nahe zu sein. Und warum sollte er lügen, wenn es um die Gründe dafür geht? Warum sollte er sich so viel Mühe machen, wenn du ihm nicht extrem wichtig wärst? Es ergibt keinen Sinn. Natürlich war vieles was er gemacht hat nicht richtig und moralisch fragwürdig, aber vielleicht auch sehr menschlich. Du bist ihm noch gar nicht gegenübergetreten mit diesem Bewusstsein, dass er Mike ist. Der Mike, der dir so wichtig und ans Herz gewachsen ist. Du konzentrierst dich gerade nur auf den Teil von ihm, in den du dich verliebt hast und von dem du dich betrogen fühlst. Aber es gab auch ein davor, dass deshalb nicht ausgelöscht sein muss. Vielleicht spulst du einfach nochmal ein Stück zurück. Du musst jetzt auch keine alles oder nichts Entscheidung treffen." „Mmm, ich lass es mir durch den Kopf gehen.", nuschelte ich und in meinem Kopf begann es zu arbeiten. Natürlich sagte ich Vroni dann doch nicht, wie gern ich sie hatte. So was tat ich selten und sie verstand es bestimmt auch ohne Worte, als ich sie ein wenig länger und fester drückte als sonst.

Mike

Es war noch nicht spät, aber ich war nach mehreren Nächten mit wenig Schlaf, so übermüdet, dass mir meine Augen beinahe sofort zufielen, als ich mich ins Bett legte. Ich träumte wirr, von Handwerkern in meiner Wohnung, die den Fußboden herausrissen. Hilflos lief ich auf und ab, fragte sie was sie da machten. „Wir reparieren den Wasserschaden.", sagte der bullige Typ der damit begann die Wände aufzustemmen. „Hier gibt es doch gar keinen Wasserschaden. Das war nur eine Notlüge.", versuchte ich zu erklären, aber sie lachten mich nur aus und machten immer weiter. Sie hörten nicht auf gegen sämtliche Wände und Wasserrohre zu klopfen. Sie legten alles in Schutt und Asche." Ich war nassgeschwitzt, als ich aufwachte und in die Dunkelheit blinzelnd, langsam realisierte, dass ich nur geträumt hatte. Doch dann hörte ich es tatsächlich klopfen. An meine Tür? Jetzt? Ich hatte mich echt früh hingelegt und war ahnungslos wie spät es war oder wie lange ich geschlafen hatte. Immer noch auf der Suche nach Raum- und Zeitgefühl eilte ich in Richtung des Klopfens, das sich noch einmal wiederholte und dann verstummte. Regungslos stand ich in der Türschwelle, die Klinke in der Hand und schaute verschlafen in den Flur. „Anni?" Sie stand im Dunkeln vor mir. Ihre Augenbrauen zuckten, als unsere Blicke sich begegneten. „Hab ich dich geweckt? Kann ich vielleicht kurz reinkommen?"

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⏰ Last updated: Oct 17, 2023 ⏰

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