25.

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Mike

Ihr Name war mit Sicherheit das schönste Wort, das mir je über die Lippen gekommen war. Ich flüsterte ihn unzählige Male in ihr Ohr. Es war unwiderstehlich und aufregend zu sehen, wie sie jedes Mal wieder darauf reagierte. Annis körperliche Nähe war, wie ein neugeschaffenes Grundbedürfnis für mich. Sie brachte mich so durcheinander, dass ich nicht mal mehr musste wie und wann wir in mein Zimmer gekommen waren. Ich wusste, dass es nicht in Ordnung war, aber sie zu küssen war so viel leichter, als ihr die Wahrheit zu sagen. Es ließ mich all meine Vorsätze vergessen. Ihr Gesicht war immer noch kalt und ich legte meine Hände auf ihre Wangen ohne meine Lippen dabei von ihr zu lösen. Ihr Atem war kühl und schmeckte nach Minze. Ich zupfte an ihrer Wollmütze herum, bis sie zu Boden fiel. Ihre Haare waren noch nass und der Geruch ihres Shampoos kitzelte in meiner Nase. Ich war nicht gut in sowas, aber es war wohl etwas Blumig-Leichtes, vielleicht war es auch sowas wie Pfirsich mit einem Hauch Vanille. Doch egal was es genau war, mein Hirn speicherte es ab unter Annie und würde diesen Duft von nun an mit ihr verknüpfen. Meine Finger glitten durch ihre Haare, ordneten ein paar wirre Strähnen. Ich fühlte ihre Hände unter meinem Shirt, auf meiner nackten Haut und mein ganzer Körper bestand irgendwann nur noch aus glühender Gänsehaut. Ich war immer noch angerührt von ihrer Verletzlichkeit, die ich heute mehrmals deutlich gespürt hatte. Wenn man sie nicht gut kannte, machte sie den Eindruck ziemlich abgebrüht und unerschütterlich zu sein und grundsätzlich immer optimistisch. Sie wirkte wie jemand, der sich bewusst immer auf der Sonnenseite des Lebens aufhielt und nichts so wirklich schwer nahm. Sie versteckte ihre Blessuren und Verletzungen, die ihr das Leben zugefügt hatte, sehr geschickt, aber ich wusste, dass es sie gab. Ich wusste, dass es auch die andere Seite von Anni gab. Diese nachdenkliche, tiefgründige, sensible, traurige und verletzte Seite. Wahrscheinlich war ich so empfänglich dafür, weil ich dazu neigte, mich ähnlich zu verhalten. Auch ich verbarg die beschädigten, verletzten Anteile meiner Seele, vor anderen Menschen und manchmal sogar vor mir selbst. Bis Anni eben vor meiner Tür gestanden hatte, war ich in keiner guten Verfassung gewesen. Manchmal holten mich meine alten Geister wieder ein. Das Gefühl, dass mir von einem Moment zum anderen alles entgleiten konnte, dieser Mangel an Lebensmut, dieses angezählt sein und die Todesängste, sie kamen dann urplötzlich zurück. Annis kleiner Rückzug vorhin, hatte als Anlass schon gereicht um mich komplett aus dem Takt zu bringen. Es war erschreckend, wie sehr ich mein Glück, meine Lebensfreude inzwischen schon mit ihr verknüpft hatte. Selbst als Mike hatte ich das  schon getan. Warum wär ich auch sonst hier überhaupt aufgetaucht? Es war nicht klug mich emotional so an sie zu binden. Kurz hatte ich sogar darüber nachgedacht  nach Hause zu fahren, aber auch dann musste ich vorher zu ihr zu gehen, und ihr die Wahrheit sagen. Daran führte kein Weg vorbei. Ratlos und rastlos stand ich da, mit der Türklinke in der Hand und dann hörte ich diese Geräusche auf dem Flur. Ich hatte gehofft, dass sie es nicht war und mir ganz verzweifelt gewünscht, dass sie es doch war und zu mir kommen wollte. Und als sie dann tatsächlich vor mir stand, war es unwirklich und gleichzeitig sehr real und so als hätten wir beide gewusst, dass es so kommen würde. Mein Kopf war leer und überfordert, während mein Herz und mein Körper jubilierten und machten was sie wollten. In jeder einzelnen ihrer Berührungen lag so viel Trost, Hoffnung und Verständnis. Unter Annis Händen, kam alles zum Fließen, wurde leichter. Bei ihr war immer alles gut. Sie war so Vieles für mich und ich wollte nichts davon wieder hergeben. Anni war wie ein Geschenk für mich. Sie war pures Leben und ich versuchte meine Angst und meine Bedenken loszuwerden, indem ich sie und mich selbst schwindelig küsste. Sie antwortete mir auf ihre Weise. Die Zurückhaltung und Unsicherheit, die ich gestern Abend und tagsüber noch gespürt hatte, war verschwunden. Sie presste ihre Lippen auf meine, immer wieder. Sie war fordernd, selbstbewusst, aber auch verspielt und brachte mich absichtlich zum Glühen. Sie trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Ich atmete flach, mein Herz raste, als ich es endlich schaffte ihr die dicke Jacke von den Schultern zu streifen. „Ich war aus sowas nicht eingestellt.", flüsterte sie. „Sonst hätte ich mit Sicherheit was anderes angezogen." Sie schielte an sich hinab und ich musste tatsächlich sehr Schmunzeln. Das gedämpfte Licht aus der hinteren Ecke des Raumes reichte aus, um den Print ihres weiten, schon etwas ausgeleierten T-Shirts erkennen zu können.

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