15.

211 19 5
                                    

Mike

Ich öffnete das Fenster nur einen kleinen Spalt, trotzdem brachte der kalte Luftzug mich zum Frösteln. Passend zu meiner Gemütslage war es draußen ungemütlich und bedrückend grau. Ich war erschöpft, müde und kraftlos, obwohl ich seit Tagen kaum was anderes tat, als rumzuliegen, an die Decke zu starren und vor mich hinzugrübeln. Nicht einmal den bunten Blättern, die über den Innenhof wirbelten, konnte ich etwas abgewinnen. Ich fröstelte ein zweites Mal und schloss das Fenster wieder. Am liebsten hätte ich mich schon wieder im Bett verkrochen. Ich versuchte mir einzureden, dass mich dieses Fatigue-Syndrom einfach wieder mal lahmlegte. Ein Überbleibsel meiner Krankheit und der Therapien. Aber diese extremen körperlichen und geistigen Erschöpfungsphasen waren inzwischen eigentlich so gut wie verschwunden und sie fühlte sich auch anders an. Im Augenblick fühlte ich mich aus einem ganz bestimmten Grund schlecht. Mein Blick blieb am Fensterbrett hängen, denn da lag Annis Buch. Bei unserer Rückkehr neulich, hatte ich es im Regen auf dem kleinen Tischchen liegen sehen. Ich wollte ihr noch hinterherrufen, aber sie war fast fluchtartig in ihre Wohnung geeilt und hörte mich nicht mehr. Also hatte ich es mitgenommen, versucht es mit dem Fön zu trocknen und dann auf den Heizkörper in meinem Apartment gelegt. Das Papier hatte sich etwas gewellt, aber im Grunde sah es wieder ganz passabel und brauchbar aus. Ich nahm es in die Hand und blätterte es immer wieder durch um die Seiten, die noch aneinanderhafteten, vorsichtig voneinander zu lösen. Ich sollte es ihr zurückgeben. Wahrscheinlich vermisste sie es schon. Doch seit diesem Nachmittag auf der Hütte ging sie mir ganz offensichtlich aus dem Weg. Seit Tagen schon. Sie ging nicht nur Michi aus dem Weg, sie schrieb auch ungewöhnlich wenig und nichtssagend an Mike. Ersteres konnte ich mir durchaus erklären. Ich vermutete. dass Anni sehr verwirrt und erschrocken war, über ihre Reaktion auf diese Vertrautheit, die sich zwischen uns eingestellt hatte. Und wenn ich ganz ehrlich war, war es auch viel mehr als das. Zwischen uns hatte es nicht nur geknistert, die Luft hatte förmlich gebrannt. Ich hatte nicht nur die Chance verpasst die Situation aufzuklären, nein ich musste auch völlig falsche, viel zu vertrauliche, Signale ausgesendet haben. Von Anfang an hatte ich ihre Nähe gesucht, ohne mir zu überlegen wie das auf sie wirken musste. Es war einfach schön, erfüllend und aufregend sie zu sehen, zu hören, ihre Anwesenheit spüren. Nur war das dieses Mal gründlich aus dem Ruder gelaufen. Annis Präsenz, ihre ganze Art, machte mich glücklich, aber auch gleichzeitig tierisch nervös. Ihre Hand zu halten und mich um ihre Verletzung zu kümmern, das hatte mich nicht kalt gelassen. Im Gegenteil. Ich hatte schlagartig so viel und so intensiv gefühlt, ihren Schmerz, ihre und auch meine verwirrenden Emotionen, dass ich sie kaum noch ansehen und auch nicht damit umgehen konnte. Diese natürliche Grenze zwischen ihr und mir war verschwommen, löste sich für ein paar Sekunden vollständig auf. Ich hätte nichts lieber getan als sie in dem Arm zu nehmen, sie an mich zu drücken, zu trösten und zu beruhigen und...ich fühlte mich in dem Moment so extrem von ihr angezogen, seelisch, körperlich. Ich versuchte es auf unsere besondere Situation zu schieben, auf das was ich über sie wusste. Dass ich eine tiefe emotionale Bindung zu ihr hatte. Doch anscheinend spürte Annie trotz ihrer Unwissenheit, etwas ganz ähnliches. Ich war innerlich fast gestorben, als sie mich so zart berührte und dann .... Es war kein richtiger Kuss, eher eine flüchtige, angedeutete und impulsive Berührung. Aber es reichte vollkommen aus um mein Herz zum Rasen zu bringen. Es war wie ein unverhoffter, überwältigender, aber auch verbotener Glücksrausch. Mein ganzer Körper war in Aufruhr, während ich wie versteinert da saß. In meinem Kopf dröhnte es. Es war der Moment in dem die reale Anni und die virtuelle Annie endgültig zu ein und derselben Person verschmolzen. Ich fragte mich permanent, was wohl passiert wäre, wenn ich anders reagiert hätte. Ich spulte diese Szene immer wieder in meiner Erinnerung ab, Anni die dachte ich wollte sie angraben, mir einen Korb gab und mich gleichzeitig so berührte, dass sie genau das Gegenteil davon vermittelte. Ihr Verhalten war ihr im Nachhinein wohl sehr unangenehm und das war mit Sicherheit der Grund warum ich sie kaum zu Gesicht bekam. Wenn sie mir über den Weg lief, war sie verkrampft, tat schwer beschäftigt und hatte es immer extrem eilig. Was ich mir jedoch überhaupt nicht erklären konnte war, dass sie Mike gegenüber nichts von alldem erwähnte. Nicht ein Sterbenswörtchen. Ich konnte im Grunde froh sein, so blieben mir an der Stelle weitere Lügen erspart, aber ich kapierte es nicht. Ich hatte immer geglaubt, fast alles über Annie zu wissen. Was sie erlebte und fühlte. Doch genau wie ich schien sie ihre Geheimnisse zu haben. Dinge die sie unerwähnt ließ, von denen Mike nichts wusste. Die Sache mit ihrem Bruder hatte sie bei Mike noch nie zur Sprache gebracht. Es erklärte viel, schloss einige Lücken und Fragen. Doch es kränkte mich ein wenig. Warum erwähnte sie es bei jemandem, den sie kaum kannte und ...es war paradox. War ich gerade eifersüchtig auf mich selbst? Ich schüttelte den Kopf. Ich verhielt mich unlogisch und lächerlich, denn ich hatte uns in diese Lage gebracht. Ich erwartete Ehrlichkeit, Offenheit und Loyalität von Anni und was tat ich da gerade? Sobald sie die Wahrheit erfuhr, würde sie wahrscheinlich weder mit Mike noch mit Michi, je wieder etwas zu tun haben wollen.

Wo wir frei sindWhere stories live. Discover now