Wo wir frei sind

19.

Anni

Obwohl ich so wenig Schlaf abbekommen hatte, war ich gegen halb sechs bereits hellwach. Ich machte mir einen extra starken Kaffee, aber eigentlich hätte ich ihn gar nicht gebraucht. Ich war auch so schon ziemlich aufgedreht. Ich packte meine Sachen zusammen, kochte Tee und überlegte was ich mitnehmen sollte. Zum ungefähr zwanzigsten Mal checkte ich meine Wetter App, aber das Wetter schien tatsächlich mitzuspielen. Es würde vielleicht keine Traumbedingungen geben, aber auch keinen Regen, Schnee und auch nicht übermäßig viel Nebel. Ich zog mich an, putzte meine Zähne und checkte mein Spiegelbild. Ich sah aus wie immer, oder etwas nicht? Kurz erwischte ich mich dabei, auf meine Make-up-Schublade zu schielen, dann tippte ich mir an die Stirn. „Soweit kommt's noch.", murmelte ich. Ich band meine Haare zu einem hohen Zopf und cremte mein Gesicht ein. War das jetzt sowas wie ein Date? Ich hatte keine Dates. Also fast nie, schon ewig nicht mehr und ich wollte auch keins, eigentlich. Dieser Kerl verwirrte mich in jeder Hinsicht und eigentlich wurde ich überhaupt nicht gerne verwirrt. Wer mich aber fast ebenso verwirrte war Mike. Er meldete sich so auffallend selten und wenn dann war er meistens ungewohnt kurz angebunden. Als ich mich so spät in der Nacht in meine Wohnung zurück geschlichen hatte und nicht wusste wohin mit mir und an Schlafen nicht mal zu denken war, da hatte ich ihm geschrieben. Er war im letzten halben Jahr schließlich meine wichtigste Vertrauensperson geworden. Und wenn jemand meinen Gedanken eine klarere Richtung geben konnte, dann er. Meistens ging er wahnsinnig spät ins Bett, schlug sich die Nächte um die Ohren und arbeitete auch am liebsten nachts, aber ich rechnete mir trotzdem keine großen Chancen aus. Er war anscheinend immer noch bei seinem Freund auf dem Land und bestimmt veranlasste ihn das zu einem etwas geregelteren Schlafrhythmus. Doch überraschenderweise hatte er mir dann postwendend geantwortet.

Hey Mike, alles gut bei dir? Wollte mal hören wie es dir geht und was du so treibst die ganze Zeit?

Annie ...schrieb er einfach nur und ich wartete eine halbe Ewigkeit auf mehr.

Mir geht es gut und dir? Es war sehr ungewöhnlich, dass unsere Konservation so schleppend und nichtssagend verlief.

Ja mir geht's auch gut. Ich bin eins bisschen konfus, aber sonst voll ok. Das war zwar maßlos untertrieben, aber ich konnte ihm ja nicht direkt auf die Nase binden, was ich da in den letzten Stunden getrieben hatte. Diese sehr intimen und innigen Momente mit einem fast fremden Mann, geteilt zu haben, kam mir mit ein wenig Abstand selber sehr unwirklich vor. Wie würde Mike darauf reagieren? Er war seit geraumer Zeit der einzige Typ gewesen, dem ich meine Zuneigung wirklich hatte spüren lassen. Natürlich auf ganze andere Art und Weise. Ihm fühlte ich mich tief verbunden und er war nach und nach zu meiner engsten Person geworden, obwohl er körperlich nie anwesend war. Bei Michi war das wahrscheinlich genau anders herum. Ich reagierte intuitiv und unmittelbar auf ihn und seine Nähe, ohne dass ich viel darüber nachdachte oder Einfluss darauf gehabt hätte.

Konfus? Gibt's denn einen Grund dafür?

Ja, aber ich weiß nicht ob ich ihn dir verraten will.

Ach Annie. .natürlich willst du, warum sonst schreibst du mir das? Aber es ist natürlich deine Entscheidung.

Hast du schon mal jemand geküsst und bist der Person näher gekommen, ohne dir genau darüber bewusst zu sein, warum ?

Ich weiß nicht, früher als ich noch ganz jung war sicherlich das ein oder andere Mal, aber warum fragst du?

Weil ich das vielleicht vorhin getan habe.

Du bist dir nicht sicher ob du jemanden geküsst hast?

Doch natürlich weiß ich, dass ich es getan habe, aber ich versuche schlüssige Gründe dafür zu finden warum.