34.

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Mike

Ich stand am Fenster und schaute in die Dämmerung. Die Berge waren in glutrotes Licht getaucht. Ein letztes Aufflammen, ein imposantes, abschließendes Himmelsspektakel, bevor der Tag endete und die Nacht alles in Dunkelheit und Kälte erstarren lassen würde. Es war wunderschön, aber auch furchteinflößend, denn ich begann mir ernsthaft Sorgen um Anni zu machen. War sie irgendwo da draußen? Allein? Vielleicht war ihr doch irgendwas zugestoßen, dass sie daran hinderte sich zu melden. Ich kniff die Augen konzentriert zusammen. Anni, jetzt komm schon. Nur ein winziges- Ich bin ok, macht euch bitte keine Sorgen. Als es just in diesem Moment klopfte, zuckte ich erschrocken zusammen. In Lichtgeschwindigkeit war ich an der Tür und stand vor Marlene, die mich aufmunternd, aber verhalten anlächelte. „Alles gut. Wir wissen jetzt wo sie steckt.", sagte sie ohne Umschweife und ich atmete erleichtert aus. „Wo ist sie? Hat sie sich bei dir gemeldet?" Sie schüttelte den Kopf. „Simon hat mich angerufen. Er hat sie gefunden. Sie sind oben auf unserer Hütte. Da hätten wir eigentlich auch selber drauf kommen können." „Und ihr geht's gut?" „Ja doch. Sie scheint ok zu sein. Simon konnte mir noch nicht so viel sagen. Nur, dass er sie gefunden hat und dass sie heute Nacht oben bleiben müssen, weil es für den Rückweg schon zu dunkel ist." „Ok. Na Gottseidank und danke dass du mir gleich Bescheid gesagt hast." In Marlenes Blick lag etwas sehr Weiches, Mitfühlendes. Sie spürte wohl, wie mich das alles mitnahm und wie mies und hilflos ich mich fühlte. Vielleicht lag es auch daran, dass sie jetzt meine ganze Geschichte kannte und ahnte wie verbunden ich mich Anni wirklich fühlte. „Weißt du, sie ist ein herzensguter Mensch, aber nicht unbedingt immer einfach. Sie wird sich schon wieder beruhigen.", sagte sie und legte die Hand tröstend auf meinen Unterarm. Ich lächelte etwas gequält. „Wollen wir es hoffen." „Brauchst du noch irgendwas? Möchtest du was Essen, ein Glas Wein oder was Stärkeres für die Nerven?" „Nein. Danke. Ich werde einfach direkt ins Bett gehen, glaub ich. Ich bin ziemlich durch."

Sie wünschte mir eine gute Nacht und verschwand im Aufzug. Gedankenverloren putzte ich meine Zähne und legte mich ins Bett. Ich war erleichtert. Das Wichtigste war erstmal, dass es Anni gut ging, dass sie körperlich unversehrt und in Sicherheit war. Woher hatte Simon gewusst, wo er sie suchen musste und warum suchte er sie überhaupt? Warum nicht Jakob oder Josef? Wenn ich es richtig verstanden hatte, war ihr aktuelles Verhältnis zwar einigermaßen ok, aber auch ein wenig krampfig, zumindest hatte ich den Eindruck bei Anni gewonnen. Andererseits redete oder schrieb sie auch nie etwas Schlechtes über ihn und ich war froh, dass sie jetzt nicht alleine und in Sicherheit war. Ich feilte in meinem Kopf pausenlos an Worten und Sätzen herum, die ich ihr sagen wollte, verwarf sie aber immer wieder. Es machte einen verrückt. Irgendwann gab ich es auf. Man konnte sich eh auf sowas nicht richtig vorbereiten. Draußen fiel wieder Schnee. Hoffentlich machte das den Rückweg für die beiden, nicht noch schwieriger. Es war schon mitten in der Nacht, als ich barfuß auf meinen Balkon schlich. Ich bewunderte die weichen Flocken und fing ein paar davon mit der Hand auf. Die kalte Luft tat gut. Sie legte sich um meine nackten Arme und Beine und auf mein Gesicht. Sie klärte auch meine Gedanken. Atem, Luft, Leben, ging es mir durch den Kopf. Darauf kam es an. Ich atmete und ich war am Leben und ich spürte dieses Leben und die Kälte, gerade überraschend deutlich und unmittelbar. Ich war nicht tot, ich war immer noch hier. Anders, aber sicher nicht schlechter oder schwächer. War aus diesen erschreckend dunklen Tiefen, wieder an die Oberfläche gelangt und stand jetzt hier an diesem wunderbaren Ort, der sich so richtig anfühlte. Vielleichte machte ja alles im Leben irgendwann Sinn, zumindest das Meiste davon. Bestimmt auch dieser seltsame Tag und diese eisige Nacht, die einfach nicht vorbeigehen wollte. Als es mir irgendwann doch zu kalt wurde, schlüpfte ich zurück unter meine Bettdecke und fiel in einen unruhigen Schlaf, der immer wieder durch Wachphasen unterbrochen wurde. Irgendwann gab ich genervt auf und ging Duschen, obwohl es noch nicht mal hell war. Ich musste irgendwie die Zeit totschlagen und begann meinen Notizblock vollzukritzeln. Die letzten Wochen, hatte ich wirklich kaum gearbeitet. Manchmal half es mir Dinge aufzuschreiben, die mir gerade durch den Kopf gingen. Manchmal lag direkt eine Art Melodie in den Worten, manchmal auch nur ein Hauch, eine Ahnung, die man wie ein Bildhauer herausarbeiten musste. Doch heute klang alles schrecklich belanglos und austauschbar. Alles was mir einfiel war immer wieder nur Sorry aufs Papier zu kritzeln. Aber das war nicht ansatzweise genug. In keiner Hinsicht.

Wo wir frei sindWhere stories live. Discover now