32.

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Anni

Es wurde düster in der Hütte. Ein Blick aus den Fenstern zeigte mir, dass sich der Himmel zugezogen hatte und es wieder schneite. Ich zog die Beine enger an meinen Körper und schlang meine Arme herum. Ich fror, aber mir war die ganze Zeit schon so kalt, dass es keine große Rolle mehr spielte. Im Grunde nahm ich die Kälte von außen kaum wahr, weil ich innerlich noch viel mehr fror. Ich wusste, dass es höchste Zeit gewesen wäre nach Hause zu gehen, denn sehr bald würde es dafür zu dunkel werden. Der Weg war im Grunde nicht tragisch, aber ohne Tageslicht und vor allem mit dem ganzen Neuschnee, doch zu gefährlich. Wenn ich hier oben bleiben wollte, dann musste ich für Wärme sorgen, Feuer machen und auch endlich zu Hause Bescheid geben. Doch Holz und Handyempfang gab es nur vor der Hütte und ich konnte mich einfach nicht dazu aufraffen aufzustehen. Heute Morgen und den Vormittag über, hatte ich nicht eine Sekunde Stillstand ertragen. Ich war stundenlang ziellos durch die Gegend gerannt und irgendwann hier gelandet. Doch jetzt fühlte ich mich wie ein wechselwarmes Tier, das sich nicht einen Zentimeter mehr bewegen konnte, weil seine Umgebung so schrecklich kalt war.  Früher hatte ich unsere Hütte immer Mal wieder als Rückzugsort benutzt, aber das war verdammt lange her. Niemand würde sich noch daran erinnern. Ich zitterte, kuschelte mich tiefer in meine Jacke und den weichen, flauschigen Pullover. Er wärmte mich, aber ich wünschte mir trotzdem, ich hätte ihn nicht angezogen. Die ganze Zeit seinen Geruch in der Nase zu haben, war Folter. Ich schniefte. Ich wollte nicht mehr länger an ihn denken müssen. Ich war mir nicht mal mehr sicher, ob ich auch nur ansatzweise wusste, wer oder was er wirklich war. Michi oder Mike? Beide? Oder keiner, nichts davon?

Woher sollte ich jetzt noch wissen was davon Wahrheit und was Lüge war? Ich konnte die Zusammenhänge nur schwer erfassen und auch kaum ertragen. Er hatte mich manipuliert, sein Wissen über mich ausgenutzt und mich so dazu gebracht mich in ihn zu verlieben. Und ich, ich hatte es ihm sehr leicht gemacht. So unfassbar naiv und gutgläubig, das passte gar nicht zu mir. Das Schlimmste daran war, dass ich diese Gefühle jetzt nicht mehr einfach abstellen konnte. Ich ertappte mich sogar dabei, wie ich versuchte einen Funken Verständnis aufzubringen und nach Entschuldigen für ihn zu suchen. Nur weil ich die traurige Realität nicht wahrhaben wollte.

Anni, steh jetzt auf, mach Feuer, Licht und schreib eine Nachricht an deine Mutter. Doch mein Körper und mein Kopf waren so erschöpft und energielos. Ich blieb einfach genauso sitzen. Ein Geräusch riss mich irgendwann aus meiner Lethargie. Ich hörte etwas, das wie Schritte klang, ein Poltern, sicher nur irgendein Tier, aber dann klopfte es. „Anni? Bist du da drin?" Für einen Moment hoffte mein dummes, erbärmliches Herz, er könnte es sein. Er würde mich in den Arm nehmen, mir alles erklären. Nur ein dummes Missverständnis und alles würde sich aufklären. Aber es gab nichts weiter aufzuklären und das war auch nicht seine Stimme. Die Klinke bewegte sich langsam nach unten. „Anni Gottseidank! Was machst du denn hier oben? Bist du irre? Alle machen sich mittlerweile Sorgen." Ich kauerte mich noch enger auf der schmalen Holzbank zusammen, zuckte mit den Schultern und wich Simons besorgten und gleichzeitig vorwurfsvollen Blicken aus. Ich hätte nicht überraschter sein können, dass gerade er nach mir suchte und das schlechte Gewissen nagte sofort an mir. Am liebsten hätte ich mich unsichtbar gemacht. „Es ist ja eiskalt hier drinnen." Er schloss die Tür hinter sich und rieb seine Hände aneinander. Dann macht er die Gaslampen an, nahm seinen Rucksack ab und ließ sich neben mich auf die Bank fallen. „Was ist los mit dir?"

„Was soll sein? Ich hab einfach etwas Ruhe gebraucht. Aber offensichtlich ist das nicht mal hier möglich.", antwortete ich in einem unangebrachten, schnippischen Ton. Er schnaubte empört durch die Nase „Anni echt, jetzt ist aber gut. Ich hab alles stehen und liegen lassen und bin wie ein Irrer hier hochgerannt, durch den ganzen Schnee, weil es gleich dunkel wird."

„Ich kann mich nicht erinnern, dich darum gebeten zu haben, oder? Woher weißt du, überhaupt...?" „Dass du verschwunden bist? Oder dass du dich hier verkochen hast? Jakob hat mich angerufen, weil deine Mutter und die ganze Familie sich Sorgen macht. Vroni ist übrigens auch schon unruhig. Dass du hier sein könntest, war nur eine spontane Idee, aber die einzige Option, die mir noch irgendwie plausibel erschien."

Wo wir frei sindWhere stories live. Discover now