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Mike

Ich versuchte zu schlafen, aber es war aussichtslos. Ich bewegte mich aktuell einfach zu wenig und lag tagsüber zu viel herum um abends wirklich müde zu sein. Mir fehlte die viele Bewegung an der frischen Luft und diese angenehme Schwere und Müdigkeit danach, mein Körper hatte sich verdammt schnell daran gewöhnt. Vielleicht könnte ich Anni nochmal fragen wegen dem Fitnessraum, so lange das Wetter so mies war oder wahrscheinlich besser Marlene? Ich seufzte laut und resigniert. Das waren im Grunde alles nur unnötige, fruchtlose Gedankenspiele um mich davon abzulenken, was ich wirklich zu tun hatte. Morgen würde ich zu Anni gehen. Ich wusste ja wo ihre Wohnung war. Ich würde ihr das Buch bringen und endlich die ganze Wahrheit sagen. Ich versuchte die Magenschmerzen zu ignorieren, die schon allein dieser Gedanke bei mir auslöste. Ich beschloss einen späten Abendspaziergang zu unternehmen, vielleicht konnte ich danach ja schlafen. Ich checkte auf meinem geräumigen Balkon die Wetterlage. Es regnete endlich nicht mehr und der Wind hatte sich auch gelegt. Ich blinzelte auf die Uhr. Ok es war schon mehr ein Mitternachtsspaziergang. Aber ein paar Runden ums Hotelgelände würden niemanden stören. Draußen wirkte es eh wie ausgestorben. Alles schien schon zu schlafen. Ich war auf einmal fast ein Wenig euphorisch, als ich mit meiner wärmsten Jacke in der Hand, die Treppe nach unten trabte. Ich war darum bemüht kein unnötiges Geräusch zu machen um niemanden zu wecken. Die anderen Gäste, ein paar Arbeiter der Molkerei, bekam ich nur selten zu Gesicht. Sie hatten einen völlig konträren Tagesrhythmus. Früh aufstehen, früh ins Bett. Wenn im Hotel Normalbetrieb wäre, dann würden jetzt sicher noch viele Gäste in der Bar sitzen, ihre Drinks schlürfen und sich unterhalten. Ein Feuer würde in dem großen Kamin prasseln und vielleicht würde sogar jemand auf dem Klavier in der Ecke spielen oder irgendeine andere Musik würde laufen. Irgendwas chilliges...Ich blieb irritiert stehen, runzelte die Stirn und zweifelte kurz an meinem Verstand, aber ich konnte tatsächlich leise Klaviertöne aus der Bar hören. Als ich näher kam merkte ich dass die Tür, die sonst immer offenstand, geschlossen war.. Ich lugte durch die großen Glasscheiben daneben. Es brannte nur sehr gedämpftes Licht und ich konnte die Ecke in der das schwarzlackierte Klavier stand nicht einsehen. Durfte ich einfach so hineingehen und nachsehen? Marlene sagte immer, ich könnte mir jederzeit aus der Bar holen was immer ich wollte und auf die Rechnung setzen lassen. Es gab einen großen Kühlschrank in dem die unterschiedlichsten Getränke gelagert wurden. Der perfekte Vorwand also. Meine Neugier siegte. Ich drückte die Klinke langsam und geräuschlos nach unten.

Ein Teil von mir war extrem überrascht, ein anderer hatte wahrscheinlich genau darauf gehofft. Es war Anni, die da am Klavier saß. Sie bemerkte mich nicht. Sie spielte die ersten Akkorde eines Stücks, das ich kannte, dessen Titel mir aber spontan nicht einfallen wollte. Ich haderte mit mir. Ich sollte gehen und sie in Ruhe lassen, aber ich tat es nicht. Gespannt beobachtete ich sie. Sie war hochkonzentriert. Sie trug dunkle Jeans und einen dunkelroten, weiten Pullover. Ihre Haare waren heute anders. Sie schimmerten fast so glatt und dunkel wie das Holz des Klaviers. Immer wieder spielte sie dieselben paar Anfangs-Akkorde, blieb dann aber immer an derselben Stelle hängen. Sie schüttelte den Kopf, strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und begann wieder von vorne. Unzählige Male. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und räusperte mich. „Nicht erschrecken." Natürlich zuckte sie trotzdem zusammen und drehte sich erschrocken zu mir. „Entschuldige ich wollte mir eigentlich nur etwas zu trinken..." Ich deutete auf den gläsernen Kühlschrank, winkte dann aber ab. „Also um ehrlich zu sein, wollte ich noch nen späten Spaziergang machen und dann hab ich jemand spielen gehört und war neugierig. Tut mir leid."

Anni fixierte mich mit todernster Miene. Auf ihren Wangen lag eine zarte Röte, die Haltung ihrer Schultern war beeindruckend gerade und ihr Blick war so glasklar, als könnte sie mich restlos durchschauen. Gerade als ich begann nervös zu werden, verzogen sich ihre Lippen zu einem verhaltenen Lächeln. „Ich würd es jetzt nicht direkt spielen nennen. Ich klimpere nur ein bisschen herum. Das war das Lieblingsstück meines Bruders, schon bevor es dann vor ein paar Jahren so richtig bekannt wurde. Er konnte wahnsinnig gut spielen und manchmal, wenn er mir besonders fehlt, dann setze ich mich an sein Klavier hier. Aber ich kann nur die paar kläglichen Akkorde. Ich hab es nie richtig gelernt. Nach ein paar Monaten Unterricht hat meine Lehrerin kapituliert. Ich konnte als Kind schon nicht gut stillsitzen und vom nötigen Übungsfleiß brauchen wir erst gar nicht reden. Sebi war da anders. Wenn er sich einer Sache verschrieben hatte, dann wurde es immer gut, meistens sogar viel mehr als das. " Ihre Stimme klang melancholisch, nachdenklich und so als würde sie aus weiter Ferne kommen. Ihr schönes Lächeln verschwand und sie richtete den Blick an mir vorbei.

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