23.

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Mike

Auf dem Rückweg durchs Dorf ging Anni ganz automatisch etwas mehr auf Abstand und kurz vorm Hotel achtete sie dann sehr deutlich auf eine gewisse Distanz zwischen uns. Es störte mich nicht. Ich hatte damit gerechnet und diesen Tag würde uns so oder so niemand mehr nehmen können. Wir waren uns sehr viel näher gekommen, emotional und überhaupt. Ich wollte auch deshalb nicht, dass der Tag bald endete, denn sobald ich allein war, würde mein schlechtes Gewissen wieder die Oberhand gewinnen. Annis Gegenwart und ihre ganze Art waren so mitreißend und einnehmend, dass ich das meistens vergessen oder zumindest gut ignorieren konnte. Sie tat mir gut. Ich genoss jede Sekunde mit ihr, aber ich wusste gleichzeitig, dass dieses Konstrukt aus Lügen und Heimlichkeiten, dass ich so niemals hatte aufbauen wollen, auch jeden Moment über mir zusammenbrechen konnte. Ich schuf mir da gerade eine wunderschöne Seifenblase, die sobald sie mit Wahrheit und Realität in Berührung kommen sollte, jederzeit platzen konnte.

Annies Eltern saßen einträchtig nebeneinander auf der Sonnenterasse mit dem weiten Blick ins Tal. Marlene winkte uns schon von weitem zu. „Ach wart's ihr zwei nochmal Wandern? Des is ja schön. Des Wetter is ja auch herrlich heute. Setzt's euch her und erzählts. Ich hol euch schnell was zu Trinken. Habt's an Hunger auch?" Wir kamen kaum zum Antworten und im Nu hatten wir beide ein Radler vor uns stehen. Anni erklärte welche Strecke wir gegangen waren, richtete Grüße von Karin aus und wirkte locker, fröhlich und ungezwungen. Ja so ist das, wenn man ein reines Gewissen hat, wenn man sich nicht vor jedem Satz fragen muss, ob man sich gleich selbst verrät. Generell war das eins der vielen Dinge, die ich an Anni bewunderte. Sie war eine unglaublich vielschichtige Persönlichkeit. Sie war reflektiert, bereit sich selbst zu hinterfragen und auch aus ihren Erfahrungen zu lernen. Sie besaß eine große Feinfühlig- und Tiefgründigkeit, eine grundsätzlich positive Lebenseinstellung, ganz viel Energie und Humor und eben auch diesen Hauch von beneidenswerter Leichtigkeit, der sie fast immer umgab. Die Gespräche plätscherten auch jetzt, federleicht und angenehm dahin und ich erfuhr ganz nebenbei, dass Annis Vater, gebürtiger Österreicher war, der sehr jung hier eingeheiratet hatte. Er erzählte mir ein paar Anekdoten aus seine Heimat, dann über die Gegend hier und ich ahnte, dass Annis Leidenschaft für die Berge, bestimmt auch durch ihn gewachsen und gefördert worden war. Er zog seine Frau zwischendurch immer wieder ein bisschen auf, aber dieses Geplänkel hatte etwas sehr Liebevolles. Man spürte die gegenseitige Zuneigung und die Verbundenheit von Annies Eltern ganz deutlich. Wie sie das nur über die vielen Jahre geschafft und selbst den Verlust eines Kindes verkraftet hatten, ohne dabei auseinanderzudriften? Das löste höchsten Respekt in mir aus. Vielleicht tat sich Anni deshalb auch so schwer mit Bindungen und Beziehungen? Weil sie das, möglicherweise unbewusst, als Maßstab ansetzte, sich selbst aber nicht darin wiederfand oder das Gefühl hatte versagt zu haben.

Marlene setzte sich in den Kopf für uns alle Kaiserschmarrn zu machen und ließ sich nicht davon abbringen. Anni wollte ihr helfen, aber das lehnte sie kategorisch ab. „Du bleibst da und kümmerst dich um unseren Gast. Du kennst doch den Papa, der ist ja manchmal so ein Stoffel." Ich hatte keine Ahnung was das bedeutete, aber ich musste trotzdem mitgrinsen, als er empört protestierte, sie ihm beschwichtigend den Kopf tätschelte und dann nach drinnen verschwand.

„Entschuldige bitte, meine Eltern können sich manchmal echt nicht benehmen.", meinte Anni kopfschüttelnd. Annis Vater wollte etwas dazu sagen, aber just in diesem Moment klingelte sein Handy. Er ging ran, stand auf und lief dann telefonierend über den Innenhof.

„Du hast es gehört, du musst dich jetzt um mich kümmern. Ich bin schließlich dein Gast." Ich grinste sie an und Anni strahlte zurück. Sie berührte meine Hand unter dem Tisch und strahlte so von innen heraus, dass mein Herz sofort höher schlug. „Scheint so. Auftrag von ganz oben." Nur am Rande registrierte ich ein Motorengeräusch in meinem Rücken, doch Annis Gesichtsausdruck veränderte sich und sie zog ihre Hand zurück. Auf einmal wirkte sie ernst und ihr Blick war starr auf den weißen Lieferwagen geheftet, der ein paar Meter neben uns anhielt. Annies Bruder und ein blonder Mann stiegen aus. Jakob hob die Hand zur Begrüßung und kam auf uns zu. Der andere Mann folgte ihm und Annie murmelte leise, fast tonlos irgendwas vor sich hin.

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