21.

113 19 8
                                    

Mike

Nach einem längeren, etwas schweißtreibenden Anstieg lichtet sich der Wald schließlich und gab den Blick auf ein weites Tal frei. Unter uns floss dieser Wimbach in seinem Schotterbett, links und rechts wurde er eingerahmt von steilen Berghängen und hohen Gipfeln. Zweifellos eine wunderschöne Kulisse, aber ich fragte mich wovon Anni vorhin gesprochen hatte. Ein Flussbett ohne Wasser? Nichts deutete darauf hin, dass in diesem Wimbachtal irgendwas anders wäre, als in anderen naturbelassenen Alpen-Flusstälern. Ich fragte allerdings nicht weiter nach, sondern befolgte ihren Rat und wartete ab, auch weil ich an der Stimmung zwischen uns auf keinen Fall irgendwas verändern wollte. Anni wirkte gerade so gelöst, entspannt und zugewandt. Sie hatte ihre Skepsis und Zurückhaltung unterwegs nahezu vollständig abgestreift. Wenn sie so bei sich und so sehr sie selbst war, wie jetzt, dann wurde mir ihre Anziehungskraft noch bewusster. Ich mochte die Art wie sie sich bewegte, so entschlossen, aber gleichzeitig leichtfüßig und unbeschwert. Diese besondere Energie, die sie umgab, war belebend und gleichzeitig erzeugte sie ein intensives Gefühl von Geborgenheit in mir, so dass sie mich meine schwierige Situation fast vergessen ließ.

„Was ist das für ein Lied von dem du vorhin gesprochen hast? Das mit dem wilden Wasser? Worum geht's da?"

Sie funkelte mich an. „Suchst du Inspiration?"

Ich zuckte mit den Schultern und lächelte. „ Immer, aber wahrscheinlich bin ich einfach nur neugierig."

„Zusammengefasst, geht es um eine intensive Verbundenheit zu einer anderen Person, die mit wildem Wasser, das vom Berg fließt verglichen wird. Ein Mensch der so mitreißend ,frisch und anders ist, dass sich durch ihn plötzlich alles verändert. Um Gefühle, die so echt und klar sind, dass man sie nie mehr aufgeben und missen will."

„Hast du dir das etwa gerade ausgedacht?"

„Sehe ich denn so aus, als könnte ich mir so etwas Kitschiges einfach aus den Fingern saugen? Ich hab das Lied eigentlich schon zu oft gehört, aber ich mag diese Metapher trotzdem sehr. Ein sehr elegantes und zielsicheres Stilmittel, nicht wahr? Hast du dir sowas auch schon mal ausgedacht?"

„Ja sicher. Man verknüpft einfach zwei Bereiche miteinander, die sinngemäß eigentlich nichts miteinander zu tun haben, aber auf diese Weise eben sehr starke Bilder im Kopf erzeugen."

Anni nickte. „Sowas wie ...eine Mauer des Schweigens errichten, jemanden ins kalte Wasser werfen oder ihm das Herz brechen. Jeder kapiert sofort, dass nicht wortwörtlich einer Person das Herz aus dem Körper gerissen und dann zerbrochen wurde, sondern, dass ein Menschen auf der Gefühlsebene verletzt und dadurch etwas in ihm kaputt gegangen ist.

„Ist dir das schon mal passiert?"

„Wem denn nicht? Gehört wohl leider zum Leben dazu. Allerdings muss ich sagen, nicht absichtlich, nicht aktiv, es war eher der Lauf der Dinge und vielleicht hab ich es mir auch ein stückweit selber gebrochen. Und dir?"

„ Ja schon, aber vielleicht war es auch eher so, dass die Umstände und gewisse Entwicklungen mehr weh getan haben, als dass mir jemand bewusst Schmerz zugefügt hätte."

„Lässt sich manchmal einfach nicht vermeiden und andererseits erhöht es auch die Lebensintensität irgendwie. Meine Oma hat damals die Hände auf mein verheultes Gesicht gelegt und gesagt. „ Du verstehst das jetzt nicht, aber glaub mir es wird dich weiterbringen."

„Und hat es das?"

„Nun es hat mich auf jeden Fall weit herum gebracht." Sie lächelte. „Ich denke schon, dass ein gewisses Maß an Leid, die Fähigkeit Glück zu empfinden erhöht. Aber Scheiße bleibt es trotzdem. Ich kenn mich nicht damit aus, aber es hat sich für mich angefühlt wie ein schlimmer Drogenentzug und ich musste möglichst viel Abstand zwischen die Droge und mich bekommen. Und ich hab echt alles gegeben um mich abzulenken. Ich bin über ein Jahr lang ununterbrochen in der Welt herumgereist, hab meine Haare abschneiden lassen und schließlich auf Bali so ein Selbstfindungs-Retreat gemacht. Mit Yoga, Meditation usw. Völlig verrückt eigentlich. Was war deine Methode?"

Wo wir frei sindWo Geschichten leben. Entdecke jetzt