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Der Zettel in seiner Hand zitterte und war schon ganz weichgeschwitzt, weil er ihn bereits gefühlte Ewigkeiten anstarrte. Er versuchte immer noch, zu verstehen, warum er statt Ella diese Zeilen vorgefunden hatte, als er zurück ins Esszimmer gekommen war.

So oft er in Gedanken auch die letzten Momente zusammen mit Ella durchging, er wusste nicht, was passiert war. Gerade hatte sie ihm noch eröffnet, dass sie wirklich in eine Depression gerutscht war, und jetzt war sie weg, statt mit ihm ihr Problem anzugehen. Scheiße, war er etwa der Grund dafür?!

Er schluckte hart. Immerhin war es ihr vor diesem Abend gutgegangen, bevor er mit einer Äußerung alles in die Tonne gekloppt hatte, was sie sich bis dorthin aufgebaut hatten. Aber er hatte wirklich gedacht, sie hätte verstanden, warum er sich an diesem Abend so benommen hatte. Sie war doch gestern Nacht unverhofft vor seiner Tür gestanden und hatte ihm gesagt, dass sie einen Leasingvertrag wollte. Was ihre Metapher dafür war, dass sie eine Beziehung mit ihm wollte. Also wieso war sie jetzt weg?!

Noch einmal ließ er seine Augen über die krakeligen Buchstaben wandern, deren Sinn er nicht kapierte: „Es tut mir leid, Ben. Ich kann nicht. Du bist eine Naturgewalt, aber das kann ich nicht wegstecken. Ich wünschte, es wäre anders. Ich liebe dich. Ella."

Schon die Tatsache, dass dort die drei Worte standen, die er sich sehnlichst von ihr gewünscht, doch nie gehört hatte, ergab für ihn keinen Sinn. Wenn sie ihn liebte, wieso ging sie? Ohne Gruß, während er mit einem Kunden telefonierte und sich seine Wünsche für die Software anhörte, die ihn in diesem Moment einen feuchten Kehricht interessiert hatte.

Dennoch hatte er die Abwechslung willkommen geheißen. Immerhin hatte die Frau, die er liebte, ihm gesagt, wie es wirklich in ihr ausschaute und er hatte so getan, als wäre es das Alltäglichste der Welt, dass in ihr nur Traurigkeit und Angst herrschten. Doch es hatte ihn schockiert.

War es das, was sie vertrieben hatte? War seine Intension falsch gewesen, ihr das Gefühl vermitteln zu wollen, dass es ok war? Hätte er zugeben müssen, wie sehr ihm das zusetzte? Hör auf! Das Was-wäre-wenn-Spielchen bringt dich nicht weiter.

Automatisch nickte er, trotzdem fiel ihm weiterhin jeder Atemzug schwer. Das war nun das dritte Mal innerhalb von ein paar Wochen, dass er dachte, er hatte sie verloren. War das jetzt endgültig? Oder bestand noch Hoffnung?

Er konnte sie nicht einfach aufgeben. Er verliebte sich nicht leicht und schon gar nicht fühlte er schnell Liebe für jemanden, wenn man von ein paar Ausnahmen absah. Wenn ich hier sitzenbleibe, wird sich wohl nichts ändern.

Doch in den Zeilen vor ihm war nur Hoffnungslosigkeit, wie sollte er daran etwas rütteln? Moment. Sie würde sich nichts antun oder? Nein, ausgeschlossen. Sie liebte ihre Kinder und die würde sie nicht alleinlassen. Niemals. Aber was wenn doch?!

Dieser Gedanke brachte Bewegung in ihn und er merkte erst im Flur seines großen Einfamilienhauses, dass er den Zettel weiterhin in den Händen hielt, als er nach den Schlüsseln in der Schale auf der Anrichte grabschte. Seufzend legte er das Blatt Papier daneben, griff endgültig nach den Schlüsseln, schlüpfte in Jacke und Schuhe und zog die Tür hinter sich ins Schloss. Es schneite ziemlich stark. Aber kein Wunder, in ein paar Wochen war Weihnachten.

Trotzdem passte ihm das Wetter gerade nicht in den Kram. Wäre es trocken und nicht glatt, hätte er sich auf sein Motorrad geschwungen und wäre mit dem zu Ellas Wohnung gefahren, um sie zur Rede zu stellen. So musste er aber doch den Wagen nehmen, denn schon auf dem kurzen Weg zur Garage kam er ins Schlittern. Er hoffte wirklich, die Straßen wären gestreut, da er keine Minute zu verlieren hatte.

Er ließ den Motor an und automatisch heulte er auf, als er den Fuß zu spät von der Kupplung nahm, obwohl er schon fest aufs Gas drückte. Seine Finger tippten ungeduldig gegen das Lenkrad, als sein Nachbar fröhlich winkend an seiner Ausfahrt vorbeifuhr. Ging das denn nicht schneller, fragte er sich, während er die Hand ebenfalls zum Gruß hob.

Erleichtert seufzte er auf, als der Wagen hinter ihm endlich verschwand und er seinen auf die Straße setzen konnte. Ein leichtflockiger Weihnachtssong drang aus dem Radio und er stellte es angewidert ab. Seine Gedanken rasten gerade zu sehr, um sich auf Festtagsstimmung einlassen zu können.

Er kam nicht so schnell voran, wie er sich das wünschte, denn die Straßen waren echt spiegelglatt. Als er um eine Kurve fuhr, brach ihm erneut das Heck des Wagens aus. Verdammte Kacke, er konnte das Auto gerade noch abfangen, bevor er in den Gegenverkehr knallte! Mach langsam. Wenn du so weiterfährst, kommst du gar nicht bei Ella an.

Automatisch drang ein Seufzen aus seinem Mund und er nahm den Fuß vom Gas, weil der PKW vor ihm wohl noch Sommerreifen drauf hatte, denn er schlingerte leicht auf der Straße. Hoffentlich war Ella heil angekommen. Doch wieso sollte sie das nicht?

Er schaltete das Radio wieder an, suchte aber nach einem Sender, der mehr das spielte, was er jetzt hören wollte. Das Problem war, dass er nicht wusste, was das sein sollte. Also gab er schließlich resigniert auf und verband sein Handy via Bluetooth mit dem Wagen. Sofort dröhnte ihm Coldplay entgegen, die ihm versicherten, dass jede Träne auch ein Wasserfall war und er seufzte. Als ob das besser wäre als „Last Shitmess".

Aber er hatte jetzt keinen Nerv, nach etwas zu suchen, was ihn mehr ansprach. Außerdem musste er sich wirklich auf den Verkehr konzentrieren, denn gerade fuhr er die Serpentinen hoch, die sich den Berg hinaufschlängelten, den er bewältigen musste, wenn er zu Ella wollte. Er hatte keinen Bock rückwärts wieder herunterzurutschen, dachte er und schaltete einen Gang hoch, um mehr Grip zu haben.

Erleichtert sah er, dass ihm ein Schneepflug entgegenkam und zumindest die Gegenseite schon räumte und streute. Auch, wenn ihm das gerade nicht half, weil er jetzt gerne einen Düsenantrieb hätte, der ihn schnellstens zu Ella bringen würde.

Als er diese Etappe hinter sich hatte, seufzte er erleichtert. Jetzt war es nicht mehr weit, bis er ihr in die Augen sehen und fragen konnte, was das zu bedeuten hatte. Plötzlich merkte er, wie Wut sich in ihm breitmachte. Da hielt sie Ewigkeiten mit ihren Gefühlen hinter dem Berg und dann schrieb sie auf einen bescheuerten Zettel, was sie empfand, ohne sich dem zu stellen. Als hätte er sie im Stich gelassen, nur, weil sie gerade nicht klarkam. Vertraute sie ihm denn wirklich so wenig?

Bleib ruhig. Wenn du ihr mit Wut begegnest, wird sie zumachen. Doch sein Besänftigungsversuch verpuffte im Nichts. Es tat schlicht weh, wie sie sich verhielt. Vielleicht sollte er umdrehen und es auf sich beruhen lassen. Er mochte es kompliziert. Aber wollte er es so kompliziert?

Resignierend schüttelte er den Kopf. Er hatte keine Wahl, nicht wirklich. Seit sie in sein Leben getreten war, hatte er keine Chance mehr gehabt. Das war ein Fakt, erinnerte er sich und fuhr in die Kurve, die ihn zu Ellas Haus bringen würde.

Sofort kam er ins Schleudern und sein Herz setzte einen Schlag aus, während er sich wegen seiner Unachtsamkeit verfluchte. Er hatte vergessen, dass die Nebenstraßen nicht gestreut wurden und der Graben rechts von ihm, kam gefährlich nahe, als er vorsichtig bremste und mitten auf der Straße zum Stehen kam.

Zischend entwich sein Atem, den er automatisch angehalten hatte, und er ließ kurz den Kopf aufs Lenkrad fallen. Das war knapp gewesen. Er wartete, bis sein Herzschlag sich wieder beruhigt hatte, und schaute dann zurück auf die Straße. Sein Blick verfing sich in der leeren Auffahrt vor Ellas Garage. Sie war also nicht da. Doch das warf die nächste Frage auf: Wo war sie?

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Rainbow Clouds - Weil Sonne und Regen sich vereinenWhere stories live. Discover now