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Viel geschlafen haben wir nicht. Trotzdem wirkt Ella völlig entspannt. Er warf seiner Freundin einen Blick zu, deren Füße wie von selbst im Takt von Snowflakes von den White Apple Trees auf die Fußmatte tippten. Sie hatte die Augen geschlossen und er bemerkte, dass sie komplett in der Melodie des Songs versunken war.

Sofort beschleunigte sich sein Herzschlag und er bedauerte es, dass sie gleich an der Seniorenresidenz angekommen waren, in dem er seine Mutter untergebracht hatte. Obwohl seine Finger wie immer ein bisschen zu zittern begannen, war es diesmal nicht so schlimm. Er hatte nicht geahnt, wie gut es ihm tat, Ella hier zu haben. Seine Freundin. Weiterhin war der Gedanke befremdlich, obwohl dabei heiße Freude durch ihn jagte.

Er verkniff sich ein Seufzen und richtete den Blick zurück auf die Straße. Es hatte noch ordentlich geschneit in der Nacht und der Räumdienst hatte sein Möglichstes getan, um der weißen Pracht etwas entgegenzusetzen. Da es jedoch weiter vom grauen Himmel rieselte, war es stellenweise trotzdem rutschig. Da sollte ich also aufpassen, egal, wie viel Technik im Auto verbaut wurde.

Er bog in die Siedlung, in der das Altenheim seinen Standort hatte und merkte, wie seine Hände feucht wurden. Jedes Mal, wenn er durch die engen Straßen fuhr, fragte er sich, was ihn wohl erwarten würde, sobald er durch die Gänge lief und seine Mutter suchte. Würde sie ihn erkennen oder hatte sie einen schlechten Tag und er musste sich mit diesem speziellen Gesichtsausdruck abfinden, der ihm wie ein Dolch ins Herz schnitt?

„Hey." Ellas sanfte Stimme holte ihn aus seinen Überlegungen zurück und er warf ihr schnell einen Seitenblick zu. „Es wird alles gut. Diesmal musst du dich dem nicht allein stellen. Ok?"

Er nickte. Natürlich hatte sie gespürt, dass er unruhig wurde, je näher er dem Domizil ihrer Mutter kam. Er griff nach ihren Fingern und bemerkte, dass ihre heute warm waren, während seine kalt in ihren lagen. Da er ihre Hand nicht loslassen wollte, führte er seine in ihre verknotet zum Schaltknüppel und fing im Augenwinkel ihr Lächeln auf. Sofort verpasste sein Herz einen Schlag. Wahnsinn, welche Macht sie über mich hat. Doch es fühlt sich gut an. Besser als alles andere in den letzten Jahren.

Er schaltete einen Gang runter, als er um die enge Kurve zum Parkplatz einbog und sah, dass noch ziemlich viele Plätze frei waren. Der große Andrang würde erst zur Kaffeezeit kommen, wenn die Angehörigen ihre Liebsten besuchten. Doch er mochte das nicht. Da war seine Mutter unruhiger, weil so viele Reize auf sie einprasselten. Zu viele Fremde.

Er stellte sein Auto am Ende des Platzes in eine Lücke und drehte den Schlüssel, woraufhin das leise Brummen des Elektro-Motors erstarb. Jetzt brach doch ein Seufzen über seine Lippen, als er das große mehrstöckige Gebäude musterte, das in einer kleinen Parkanlage thronte. Es war hübsch. Dennoch täuschte es ihn nicht darüber hinweg, dass er sich etwas anderes gewünscht hätte.

Ella drückte seine Finger und er wandte sich ihr zu. „Ich hab eine Zeitlang versucht, sie selbst zu pflegen. Aber es ging zu schnell und Becca hat es mir übel genommen, dass ich noch weniger Zeit zuhause verbracht habe. Seit sie mir um die Ohren gehauen hat, dass ich mich nicht richtig auf Beziehungen einlassen kann, frage ich mich, ob es wirklich Pflichtgefühl war, wieso ich mich da so hineinfallen lassen hab. Oder ob es einfach eine Flucht vor der Situation gewesen ist, dass ich ihrem Wunsch nach einem Kind nicht entsprechen konnte. Wenn ich damals mehr für sie da gewesen wäre..."

„Wäre vielleicht das Ergebnis das Gleiche gewesen. Stormy, es klingt komisch aus meinem Mund, weil ich mich auch oft in den Wenns verfange. Aber die Grundessenz ist, dass man die Vergangenheit nicht ändern kann. Man kann sie nur dafür nutzen, aus ihr zu lernen. Was scheißschwer ist. Und nicht so klappt, wie man sich das vorstellt. Ich hätte gern einen Schalter. So einen, den man drückt und alles ist paletti, damit ich mich nicht mir rumplagen muss. Aber na ja, den gibt's halt nicht. Wollen wir?"

Er merkte, wie sie ihm ihre Hand entziehen wollte, und hielt sie fest. Woraufhin sie ihre Brauen fragend zusammenzog und er beugte sich zu ihr. „Du hast recht. Ich kann es nur besser machen, diesmal."

Jetzt schenkte sie ihm erneut eins ihrer seltenen Lächeln und er drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Als er den Zug unter seinen Fingern spürte, ließ er los und lehnte die Stirn an ihre, während sie ihm die Hand an seine Wange legte. „Du hast damals das getan, was du für nötig erachtet hast. Also denk nicht drüber nach, was hätte sein können, sondern eher darauf, was sein kann."

Belustigt lehnte er sich zurück und schaute ihr in die Augen. „Seit wann klaust du meine Texte?"

Ella zuckte mit den Schultern und er merkte, wie gut es ihm tat, dass ihr Daumen sanft über seinen Dreitage-Bart streichelte. Eigentlich hatte er sich noch rasieren wollen. Doch dann hatte sie ihn abgelenkt. Zum Glück. „Seit ich es kann. Und weil ich das jetzt fühle. Gerade. Das ist ein Anfang. Wir sollten aber trotzdem rein. Es wird langsam kalt. Und du willst dein Versprechen einlösen, deine Mama zu besuchen."

Erneut seufzte er und nickte. Sein Blick wanderte nochmal zu dem Gebäude und er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte, während Ellas Augen ebenfalls auf das Haus hefteten. „Sieht hübsch aus. Aber das hab ich erwartet."

„Ja?" Er beobachtete, wie Ella ihren Gurt löste und die Beifahrertür aufstieß.

„Ja. Du hättest niemals zugelassen, dass deine Mutter irgendwo untergebracht wäre, wo du nicht zumindest ein bisschen das Gefühl hast, sie ist dort gut aufgehoben." Damit stieg sie aus und er schaute ihr nach, ehe er sich ebenfalls abschnallte und sich vom Sitz schob, um sich dem zu stellen, was ihn innerlich trotz Ellas Fürsprache erzittern ließ. Ob sich das jemals ändern würde?

Schnell drängte er seine Angst beiseite und schaute seine Freundin an, die seelenruhig neben dem Wagen wartete, bis er zu ihr getreten war. Wortlos verschränkte sie seine Finger mit seinen und folgte ihm, als er sich in Bewegung setzte und über die freigeräumten Betonsteine lief, die den Weg zu seiner persönlichen Hölle pflasterten. Dennoch fiel es ihm heute leichter, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Die Wärme, die von ihr ausging, tröstete ihn schon im Vorhinein, bemerkte er erstaunt und trat durch die elektrische Schiebetür, hinter der sich die große, weihnachtlich geschmückte Eingangshalle befand. Er hob grüßend die Hand, als er am Empfangstresen vorbeikam und registrierte, dass Andrea ihm freundlich zunickte.

Dann blieb der Blick der Mittfünfzigerin mit dem dunkelgrauen Schopf an Ella hängen und ein Grinsen zog ihre schmalen Lippen hoch. Er kümmerte sich nicht groß darum, obwohl sich sofort ein Flattern in seinem Bauch breitmachte. Ja, heute war er nicht allein. Und wie viel ihm das bedeutete, hatte er nicht geahnt, dachte er, als er auf den Knopf für den Aufzug drückte. „Ich liebe dich, Ella."

Er hasste sich dafür, dass seine Stimme gerade rau klang, doch Ella schaute ihn nur an, ehe sie ein Lächeln um ihre Mundwinkel zupfte. „Ich dich auch."

Er nickte und trat mit ihr in die Kabine, die sie in den dritten Stock bringen würde. Während sich der Fahrstuhl in Bewegung setzte, merkte er plötzlich, wie das Zittern in ihm sich abmilderte. Sie hatte recht. Heute war er nicht allein.

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Rainbow Clouds - Weil Sonne und Regen sich vereinenWhere stories live. Discover now