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Mühsam versuchte er, sich in den Griff zu bekommen. Sein Geständnis brannte wie Feuer in seiner Kehle und er hasste es, wenn jemand mitbekam, wie es wirklich in ihm aussah. Trotzdem war es heute schon das zweite Mal, an dem er sich damit befassen musste, dass er die Kontrolle über seine Emotionen verlor. Und das erste Mal hat zu einer großen Dummheit geführt.

„Ben, scheiße. Wie kommst du nur darauf, dass du unnütz wärst. Das macht mir echt zu schaffen." Mos Flüstern durchbrach den Wulst in seinem Kopf und er wischte sich unbeholfen über die Wangen.

„Wie soll ich mir das nicht vorwerfen? Becca konnte ich nicht geben, was sie gebraucht hat, meine Mutter – jetzt Ella... Wozu soll ich gut sein?" Er taumelte fast, als Mo ihn unvermittelt losließ. Alles in ihm krümmte sich unter dem vorwurfsvollen Blick seines Freundes, den dieser mit einem Stirnrunzeln garnierte.

„Ben, jetzt mach mal einen Punkt! Du bist nicht verantwortlich für..."

„Nein, Moritz! Mach du einen Punkt, ok? Oder willst du mir widersprechen, wenn ich behaupte, meine Unfruchtbarkeit wäre der Sargnagel zwischen Becca und mir gewesen?" Obwohl seine Worte harsch klingen sollten, wirkten sie sogar in seinen Ohren eher entmutigt. Da konnten Mos Augen und sein verkniffener Mund noch so sehr beweisen, dass er seine Anschauung missbilligte, er wusste es besser. Doch im Moment hatte er nicht die Kraft, diesem Blick standzuhalten.

Diese Leere, die er sonst verleugnete, beherrschte ihn heute zu sehr. Er hörte, wie Mo seufzte, und seine Augen flogen zurück zu dem Gesicht seines Kumpels. Das Mitgefühl darin würde ihn umbringen. Doch dann fing sich Moritz wieder und es verschwand glücklicherweise. „Ich wusste nicht, dass du dich nutzlos fühlst. Ich hab geahnt, dass du in deiner männlichen Ehre verletzt warst, aber das hatte ich nicht auf dem Schirm."

„Ich auch nicht. Ich denke, das ist mir gerade erst klargeworden." Hilflos zuckte Ben mit den Schultern und strich sich über seine Stirn, ehe er ebenfalls seufzte. „Ich dachte, es wäre mein gekränktes Ego, warum ich all diese Frauen mitgenommen hab. Aber offenbar geht das tiefer."

„Du kannst nichts für die Tatsache, dass du unfruchtbar bist, das ist dir doch klar, oder? Du hast auch alles versucht, um das zu beheben..."

„Gereicht hat es trotzdem nicht." Mo nickte und sah bekümmert aus, während sich Stille zwischen sie senkte. Automatisch sah sich Ben in dem Raum um, den er seit der Einrichtung des Bistros nie wieder betreten hatte. Die Fliesen strahlten weiterhin in einem hellen Vanilleton und die modernen edelstahlfarbenen Geräte blinkten ebenfalls im kalten weißen Licht der Strahler an der Decke.

Reflexartig fixierte er den Erzeuger des einzigen Geräusches, das die Stille durchbrach: Die große analoge Uhr mit den riesigen Ziffern, an denen der Sekundenzeiger mit leisem Tack-Tack-Tack-Tack vorbeilief. Doch dann zog eine Bewegung im Augenwinkel seine Aufmerksamkeit auf sich, als Mo sich ihm gegenüber an die metallene Arbeitsplatte der Gastroküche lehnte und sich übers Gesicht fuhr.

„Wieso hast du nichts gesagt? Ich meine, ich weiß, dass du lieber alles von dir schiebst, statt dich ihm zu stellen, wenn es um deine Gefühle geht. Diese scheißverfickten Pisser..."

„Gehören der Vergangenheit an..."

„Haben dir aber scheinbar eindrücklich gezeigt, dass..."

„Ich ein Muttersöhnchen aus ärmlichen Verhältnissen bin, das heult, weil die neue Jeans kaputtgerissen ist, als sie es geschubst haben."

„Wofür sie bezahlt haben." Jetzt musste Ben doch grinsen, als er sich daran erinnerte, wie Mo sich wie ein Berserker auf einen der Jungs geworfen und ihm die Nase gebrochen hatte. Dafür hatten sie beide Ärger bekommen, weil er eingegriffen hatte, als die anderen zwei sich wiederum auf Moritz gestürzt hatten. Der Beginn einer Freundschaft. „Du darfst dir die Sache mit Becca nicht vorwerfen, Ben. Egal, wie hart die Erkenntnis war, dass keine der Behandlungen den gewünschten Effekt hatte."

Schlagartig gefror sein Grinsen und er wich Mos eindringlichem Blick aus. „Ja, weiß ich. Fühlt sich nur nicht so an, verstehst du? Es war alles anders geplant." Da seine Stimme erneut brechen wollte, unterbrach er sich und biss sich auf die Innenseite seiner Wange. Er war viel zu rührselig heute. Ekelhaft rührselig. Doch er zwang sich hastig, seine Kiefermuskeln zu entspannen, und wich wieder Moritz' Blick aus. „Genauso wie ich Mama mehr hätte helfen müssen. Heute – ich weiß nicht – heute holt mich alles ein."

„Wie geht es deiner Mutter?" Seine Augen flogen zurück zu Moritz und er zuckte automatisch mit seinen Schultern, während sich ein neuer Kloß in seinem Hals bildete.

„Sie hat gute und schlechte Tage. Nur nehmen die schlechten jetzt rapide zu. Wenn ich sie besuche, ist sie ein bisschen mehr verschwunden. Ich ... ich frage mich, ob das anders wäre, falls ich früher eingegriffen..."

„Nein, Ben. Hör auf mit dem Scheiß. Du kannst nicht ändern, was in der Vergangenheit war. Genauso wenig kannst du den Verlauf einer Krankheit beeinflussen." Er biss sich auf die Unterlippe und nickte. Er wusste ja, dass Mo Recht hatte. Es war egal, was hätte sein können. Jetzt war es einfach so. Trotzdem blieb dieses Nagen in seinen Eingeweiden, das sich seit heute Morgen dort eingenistet hatte.

„Ich darf Ella nicht auch noch verlieren." Die Worte brachen aus ihm hervor, ohne dass er es hätte verhindern können. Doch kaum waren sie draußen, fühlte es sich an, als würden sie zwischen seinem ältesten Kumpel und ihm schweben, der seinen Blick nun gegen Boden richtete. Dann räusperte er sich und er las die Worte, die Moritz jeden Moment äußern würde. Hastig schüttelte er den Kopf. „Das steht nicht zur Debatte. Ich liebe sie."

„Ben, ich meine ja nur ... Du könntest..."

„Nein. Kann ich nicht. Und im Grunde weißt du das auch."

„Genauso wie du weißt, dass der Umgang mit einer depressiven Person nicht unkompliziert ist. Sondern fordernd und frustrierend und..."

„Mo, ich hab dich damals nicht fallen lassen und das werde ich auch nicht bei Ella tun. Du bist mein Bruder und sie ... sie ist die Eine. Ich weiß nur nicht, was ich tun soll. Wie ich ihr helfen soll. Ich fühle mich so verdammt machtlos." Erneut kippte seine Stimme und er schüttelte den Kopf, als könne er seine Gefühle damit abhalten, aufs Neue an die Oberfläche zu kommen.

Wie zuvor baute sich Stille zwischen ihnen auf und Ben hatte das Gefühl, als wäre das Ticken der Uhr nun ohrenbetäubend und würde in ihm widerhallen. Doch schließlich kniff sich Mo mit den Fingern die Nasenwurzeln und seufzte auf. „Dann musst du nur Ben sein, ok? Das hat bei mir gereicht."

„Ich habe nicht das Gefühl, dass das reicht."

„Versteckt sie Narben unter Tattoos?" Automatisch zuckte Ben zusammen, als er an die beiden wulstigen Erhebungen dachte, die man heute nur noch erahnen konnte, wenn von man ihrer Existenz wusste. Er schüttelte wortlos den Kopf und bemerkte, wie Mo mit einem traurigen Lächeln nickte. „Dann hast du es bei ihr leichter als bei mir damals."

Die Bilder, die sich automatisch in seinen Gedanken bildeten, stiegen in ihm auf und er schluckte. Auch im Gesicht seines besten Freundes erkannte er die Erinnerungen an diese schwere Zeit in ihrer Jugend. „Wir haben nie wieder darüber geredet."

„Wozu sollte das auch gut sein. Es war alles gesagt oder nicht?" Sein Flüstern klang dumpf in der stickigen Luft, die sich zwischen ihnen befand. Doch Mo schien ihn verstanden zu haben, denn sein bester Freund nickte kaum merklich. „Dich hängen zu lassen, stand einfach nicht zur Debatte. Du bist mein Bruder. Seit wir diesen Rüffler bekommen haben, weil wir uns gewehrt haben."

Jetzt grinste Mo breit und Ben merkte, wie sich die Atmosphäre zwischen ihnen wieder klärte. „Du hast dich gewehrt. Ich hab nur draufgehauen, weil es eklige kleine Pisser waren." Nun musste auch er lachen, weil Mo so zufrieden klang. Zum Glück, dachte er sich, denn mehr Druck hätte er heute nicht standhalten können. Er beobachtete, wie Mo sich von der Kante der Arbeitsplatte abstieß und spürte, wie er ihm kurz darauf auf die Schulter klopfte. „Komm, du Held. Lass uns einen Trinken. Auf die Liebe – und die Bruderschaft zwischen zwei Volltrotteln."

Dann verließ Moritz kopfschüttelnd den Raum und er sah ihm nach. Ja, auf die Liebe. Und die Hoffnung, dass sie Berge versetzen kann.

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Rainbow Clouds - Weil Sonne und Regen sich vereinenWhere stories live. Discover now