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Ihr Daumen strich sanft über seine Wange und das beruhigte den Tumult in seinem Innersten ein bisschen. Es war schwer, sich ihm zu stellen und nicht zum ersten Mal überlegte er, ob er es nicht einfach wieder abtun sollte. Doch Ella brauchte mehr von ihm, als den Mann, der scheinbar alles im Griff hatte. So war es nicht, obwohl er sich das nur zu gerne einreden würde.

Eine Welle Zuneigung rollte durch ihn, als er seinen Schmerz in ihrem Blick erkannte und er kämpfte gegen den Impuls an, sie zu küssen. Sie war nicht bereit für eine Beziehung, daran hatte sich nichts geändert. Dennoch war der Drang fast übermächtig, auf diese Art ihre Nähe zu suchen.

Doch ihr Gesichtsausdruck verriet ihm auch, dass sie trotz ihres Mitgefühls darauf brannte zu wissen, warum ihn der Anblick ihres Blutes in der Seife so mitgenommen hatte. Als die zugehörigen Bilder von damals in seinem Kopf aufblitzten, wurde sein Mund noch trockener und er musste sich räuspern. „Ich hab meiner Mutter also zugerufen, dass ich ihrer Nachbarin schnell helfen würde und gleich wieder da wäre. Ich schnappte mir den Wohnungsschlüssel und erledigte das. Als ich zurückkam..."

Er brach ab, als er erstaunt wahrnahm, dass ihm ein eiskalter Schauer seinen Rücken hinunterrieselte. Da ihn seine Erinnerungen zu verschlucken drohten, fixierte er Ellas Gesicht, ihre Augen und ließ zu, dass er in dem sanften Braun versank. „Meine Mutter weinte leise. Ich bin in die Küche gelaufen und da war alles voll Blut. Die Geflügelschere lag auf dem Tisch. Meine ... Sie schaute mich mit schreckensweiten Augen an und flüsterte die ganze Zeit, wieso man sich mit der Schere die Nägel abschneiden würde, wenn man dabei so leicht abrutschen könnte."

Zu allem Übel stieg jetzt die gleiche Panik und die selbe Hilflosigkeit in ihm auf wie damals. Tränen sammelten sich bedauerlicherweise ebenfalls in seinen Augen. Hastig schluckte er gegen die Gefühle an, die sich nun rasend schnell in seinem Hals zu einem Kloß ballten. Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen, während die Bilder auf ihn eindroschen.

Er merkte, wie Ella ihn eilends an ihre Brust zog und den Kopf schüttelte. „Nein, Ben. Es war nicht deine Schuld."

„Woher..." Er unterbrach sich, als ihm aufging, dass sie wohl auch spürte, wenn sich jemand schuldig fühlte, und erlaubte es sich, sein Gesicht in ihr Haar zu schmiegen und sich von ihrer Wärme umfangen zu lassen. Wann ist mir kaltgeworden?

Seine Finger hatten sich automatisch in den Stoff ihres Oberteils gegraben und er gab sich Mühe, sie zu lockern. Doch es gelang ihm nicht. Nicht wirklich. „Es war ein Unfall, Stormy."

„Das stimmt nicht. Ich hätte auf die anderen hören müssen, hätte sie nicht alleine lassen dürfen..." Wieder schüttelte Ella den Kopf und er schloss die Augen. „Es war meine Schuld."

„Unfälle passieren, Ben."

„Wenn ich sie frühzeitig in ein Altenheim gebracht hätte oder ambulante Pflege..." Ella lehnte sich jetzt zurück und legte ihren Zeigefinger auf seine Lippen.

„Ben. So eine Diagnose... Sie ist ... niederschmetternd. Und du bist mit Sicherheit nicht der Erste, der davor die Augen verschließt."

Er runzelte die Stirn und schob ihre Hand von seinem Mund, als sich Unwillen in ihm regte. „Woher willst du das wissen?"

Kurz wich Ella seinem Blick aus, ehe sie ihn wieder anschaute. Der Ausdruck in ihrem Gesicht machte ihm zusätzlich zu schaffen und es schnürte ihm die Brust noch mehr zu. „Meine Oma hatte Alzheimer, Ben. Ich weiß, dass man nur zu gerne vergisst, dass jedes Treffen sich anfühlt, als wäre die Person vor einem nicht weiter die gleiche. Es ist ein schmerzlicher Abschied auf Raten, den man lieber ausblendet."

Sogar er hörte die Betroffenheit aus ihren Worten und er versuchte, Luft in seine Lunge zu pressen. Doch mit jeder Sekunde fiel es ihm schwerer. „Ich habe sie nicht so oft gesehen. Meine Familiengeschichte ist kompliziert. Aber deswegen hab ich es bemerkt. Das hat es nicht leichter gemacht, zu erkennen, dass die Frau langsam verschwunden ist, die mir einen sicheren Hafen geboten hat."

Jetzt schwammen auch Tränen in ihren Augen und er wollte sie an sich ziehen, doch Ella schüttelte den Kopf. „Es ist ok, ich habe meinen Frieden damit gemacht. Was ich sagen will: Ich war die Einzige, die darauf bestanden hat, dass man sie zu einem Arzt bringt und sie durchgecheckt wird. Du bist kein Einzelfall, Stormy. Es dauert, bis man den Gedanken zulassen kann, dass ein so wichtiger Mensch im eigenen Leben einen nicht mehr erkennen wird, weil man vergessen wird."

Jetzt drang ein Schluchzen aus seinem Mund und er kniff hastig die Augen zu, um die Tränen davon abzuhalten, ebenfalls aus ihrem Versteck zu kriechen. Seine Zustimmung kam zittriger, als er sich das gewünscht hätte, doch der Schmerz brach unmittelbar wie eine Welle über ihm zusammen als ihm sein letztes Treffen mit seiner Mutter in den Sinn kam. „Schon ok."

Ihr Flüstern durchbrach das Gedankenkino und er konnte sich wieder auf sie fokussieren. Er bemerkte erst jetzt, dass sie ihre Stirn an seine gelehnt hatte. Ihre Daumen strichen wiederholt sachte über seine Wangen, als würde sie ... Fuck. Er heulte tatsächlich. Schnell biss er sich auf seine Lippen, während durch seinen Kopf hallte, er weine wie ein Baby. Was ist heute nur los mit mir? Wo kommen denn all diese Erinnerungen her?

„Nicht. Es ist ok, Stormy. Schieb es nicht weg. Du hast keine Ahnung, was es mir bedeutet, dass du mir zeigst, wie es in dir aussieht. Gerade jetzt, wo ich so irrational und verquer bin. Versteck dich nicht vor mir. Bitte." Er sah, dass auch in ihren Augen Tränen schwammen und nickte automatisch, weil sie ihn so flehentlich anschaute.

Bevor er noch gegensteuern konnte, flossen die Gefühle aus ihm heraus, die er sonst lieber verbarg. Seit jenem Tag als er dafür verspottet worden war, sie zu haben. Während er wie ein Schlosshund heulte, flüsterte ihm Ella immer wieder zu, dass es ok war und er wusste nicht, ob sie nicht vielleicht recht hatte. War es das, was Becca stets vermisst hatte? Hat sie das gemeint, wenn sie mir an den Kopf geworfen hat, ich würde mich vor ihr verschließen?

Immer wieder drückte Ella ihre Lippen an seine und allmählich verschwand das beklemmende Gefühl, zu viel preiszugeben. Es wich Akzeptanz, erkannte er erstaunt und schaute die Frau an, die auf seinem Schoß saß und mit ihm durch diese Neue Welt spazierte, als wäre es kein großes Ding. Doch das war es. Für ihn war es das.

Als der Tränenstrom schließlich abebbte, hatte er das Gefühl endlich wieder tief durchatmen zu können. Weiterhin hatte Ella ihre Stirn gegen seine gelehnt und strich ihm mit beiden Daumen über seine Wangen, während sie ihn anschaute. Bis in den letzten Winkel konnte sie sehen, ohne, dass er dagegen etwas hätte tun können. „Danke."

Irritiert zog er die Augenbrauen hoch und starrte sie an. „Ich weiß nicht, wofür du dich bedankst, Ella."

„Dafür, dass du dich nicht von meinem Zustand abschrecken lässt. Das bedeutet mir so viel."

„An dir ist nichts falsch, ok? Also wieso sollte ich mich von dir abschrecken lassen?"

„Ben, du kannst nicht so tun, als wäre ich gewöhnlich. Denn das bin ich nicht. Verschließ die Augen nicht davor, dass ich ... nicht ... ich bin gerade nicht gleichzusetzen mit einem Menschen, der normal funktioniert." Automatisch schüttelte er den Kopf. Er wusste gar nicht, was es bedeutete, normal zu funktionieren. Jeder knabberte irgendwie, irgendwo an irgendwas. Sein Zusammenbruch hatte doch genau das gerade gezeigt. Nur Ella machte sich deswegen mehr Gedanken.

„Normal kann auch ziemlich langweilig sein. Ich mag dich, wie du bist. Und wenn an deinem Himmel dunkle Wolken sind, dann schiebe ich sie mit dir zusammen weg. So einfach ist das. Das macht dich nicht minderwertiger, Sunny." Er beobachtete, wie sich erneut Tränen in ihren Augen sammelten. Bevor er es verhindern konnte, drückte er seine Lippen auf ihre und merkte, wie sie einen Sekundenbruchteil erstarrte. Sofort wollte sich sein Magen verknoten, doch dann verstärkte sich der Druck ihrer Finger um seine Wangen und sie zog ihn an sich, um ihn zu küssen.

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Rainbow Clouds - Weil Sonne und Regen sich vereinenWhere stories live. Discover now