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Sie schluckte hart und versuchte, weiter gegen den Panzer in ihrer Brust anzuatmen. Der dichte Schneefall und die Glätte auf der Straße forderten ihre ganze Aufmerksamkeit und sie konnte es sich nicht erlauben, ihrer Panik nachzugeben. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass ihre schweißgetränkten Hände fast vom Lenkrad rutschten, als sie in eine neue Kurve bog.

Sie hatte das Gefühl, dass die Luft im Wagen zu dick war, um sie in ihre Lunge zu drücken. Darum öffnete sie das Fenster, um etwas von der klaren Kälte ins Wageninnere zu lassen, die ihre Scheiben etwas beschlagen ließ. Auch ihr Herz raste. Wahrscheinlich halfen die basslastigen Electro-Rhythmen nicht, ihren Puls zu beruhigen, die hart und laut aus den Boxen drangen.

Bis ich angekommen bin, bin ich bestimmt komplett durchgeschwitzt. Wieso bin ich auch auf die Schwachsinnsidee gekommen, jetzt eine halbe Weltreise zu machen, wo sich doch schon abgebildet hat, dass die Fahrbedingungen mich in eine Panikattacke drängen werden?

Automatisch hatte sich ihre Luftröhre zusätzlich verengt, und sie atmete dagegen an. Zumindest sah sie jetzt die Straße wieder und heulte sich nicht weiter die Augen aus dem Kopf. Nicht, dass es mittlerweile ok wäre, dass sie den Mann, den sie liebengelernt hatte, sitzengelassen hatte. Mit ein paar dahergekritzelten Zeilen.

Allein, wenn sie daran dachte, wie Ben sich fühlen musste, drückte es ihr den spärlich aufgenommenen Sauerstoff aus der Lunge. Prompt zog es ihr das Heck ihres Autos von der Straße und sie rief sich wieder zur Ordnung, während sie den Fuß vom Gas nahm und den Wagen behutsam zurück auf die Fahrspur rollen ließ. Sie hatte eine Entscheidung getroffen. Die schmerzhaft war. Sie würde darüber hinwegkommen, genauso wie Ben. Sie hatte ihm schließlich eine Menge damit erspart.

Sie wusste, dass dieser Gedanke nur ein Weg war, ihre Vorgehensweise vor sich selbst zu rechtfertigen und dass die kleine Stimme, die in ihr wütete, weiterhin dagegenhalten würde. Aber sie war im Moment nicht in der Verfassung, sich in eine Beziehung und ihre Unwägbarkeiten zu stürzen.

Wieder schlitterte sie leicht und sie schluckte hart, während sie erneut ein Stoßgebet zum Himmel schickte, dass sie heil ankam. Das würde besser klappen, wenn du dich auch konzentrieren würdest, Ella!

Sie wollte nur noch heulen. Es war zu viel. Die Sache mit Lara, der sie auf den Grund gehen musste, Tobi, der ihr zusetzte, das Geld, das ihr an allen Ecken und Enden fehlte. Wie sollte sie da zusätzlich eine ernstzunehmende Beziehung aufbauen? Das war unmöglich, nicht gerade, wo sie alle ihre Kräfte zusammenhalten musste.

Wieder erschienen Bilder in ihrem Kopf von letzter Nacht, wie Ben ausgesehen hatte, als er im leichten Schneegriesel auf sie zugekommen war und Hoffnung seine im Halbdunkel liegenden Züge erleuchtet hatte. Erneut pochte ihr Herz schneller und lenkte sie damit von dem Anblick der Straße ab.

Was sich diesmal rächte. Sofort geriet sie aufs Neue ins Rutschen und sie riss erschrocken das Lenkrad herum. Was zur Folge hatte, dass ihr Wagen übersteuerte und sie sich mit der Spitze in Richtung des Grabens drehte, der geschätzt etwa eineinhalb Meter tief und circa zwei Meter breit war. Sie schluckte hektisch und trat die Bremse durch.

Sofort reagierte ihr ESP. Ihr Wagen ruckelte, als die Bremskraft vollends wirkte. Doch die Räder blockierten. Sie konnte nicht mehr gegenlenken. Wie in Zeitlupe schlitterte sie auf den Graben zu und sie spürte, wie ihr heiß und kalt zugleich wurde. Während ihre Hände sich um das Lenkrad verbissen wie ein Raubtiergebiss um seine Beute, schluckte sie trocken.

Irgendwo in einer Ecke ihres Kopfes hallte, dass sie sich das selbst zuzuschreiben hatte, woanders, sie wäre nicht so schnell dran gewesen. Automatisch huschten ihre Augen zum Tacho: 55. Fallend. Normalerweise fuhr sie hier viel schneller. Trotzdem war das ziemlich rasant für die Tatsache, dass sie die Kontrolle über ihren Wagen verloren hatte.

Ihr Herz setzte nochmal einen Schlag aus, ehe sie ihren Geschwindigkeitsmesser fixierte: Immer noch 40 Kilometer pro Stunde. Das würde hart werden, schoss es ihr durch den Kopf, kurz bevor ihr Auto auf die gegenüberliegende Erhöhung des Grabens knallte. Sie vernahm das Knirschen und Krachen, mit dem sich das Metall verformte und stemmte die Beine in den Fußraum, um Halt zu bekommen. Dann schlug ihr Kopf gegen das Lenkrad und alles wurde dunkel.

*

„Blutdruck pendelt sich ein bei 85 zu 140. Fallend. Hallo? Frau Brunner? Hören Sie mich?" Ein Stöhnen entwich ihr und sie versuchte zu antworten, doch es gelang ihr nicht. „Frau Brunner, können Sie die Augen öffnen?"

Sie wollte der Anweisung folgen, aber es war schwer. Stattdessen flatterten ihre Lider und ein weiteres Ächzen entschlüpfte ihr. Ihr Kopf dröhnte wie wild. Als würde eine Blaskapelle ihr Konzert darin spielen. Die tiefe Stimme, die auf sie einredete, vibrierte wie ein Presslufthammer durch ihr Hirn. „Frau Brunner? Öffnen Sie die Augen."

Nochmal versuchte sie, dem Befehl Folge zu leisten und diesmal gelang es ihr mühselig, die Kraft dafür aufzuwenden. Ihre Sicht war noch verschwommen, als sie wahrnahm, dass die Stimme zu einem großgewachsenen Mann gehörte, dessen Gesichtszüge sie jedoch nicht erfassen konnte. Sie fixierte den Punkt, wo sie dachte, da wäre seine Nase und allmählich klärte sich ihr Blick. „Sehr gut, Frau Brunner. Es hat Sie ziemlich erwischt. Aber das wird alles wieder, ok?"

„Erwischt?" Ihr Krächzen klang unnatürlich rau und sie merkte, dass ihre Zunge wie ein Fleischklops an ihrem Gaumen zu kleben schien, sodass sie nur schwerfällig sprechen konnte. Automatisch versuchte Ella, sich zu orten, indem ihr Blick von den freundlichen braunen Augen in einem rundlich männlichen Gesicht mittleren Alters zu der Umgebung huschte.

Die Wände, die sie umgaben bestanden aus helllackiertem Stahl und überall hingen platzsparend Schränke. Hinter dem Mann, der offenbar Sanitäter war, war eine große Schiebetür. Irritiert kramte sie in ihrem Gedächtnis, warum sie sich in einem Krankenwagen befand, doch es fiel ihr nicht ein.

Der Mann vor ihr bemerkte ihre Verwirrung wohl, denn er legte besänftigend die Hand auf ihren Arm und lächelte sie wohlwollend an. „Ihr Wagen ist auf der Fahrbahn ins Rutschen gekommen und sie sind in einen Graben gefahren. Der kurz darauf eintreffende PKW hat uns sofort alarmiert, nachdem er festgestellt hat, dass sie bewusstlos waren."

Kaum hatte der Sanitäter ihr die Situation geschildert, blitzten ein paar Fetzen in ihrem Gedächtnis auf und sie merkte, wie sich ihr Puls sprunghaft beschleunigte. „Wie schlimm ist es?"

Wieder klang ihre Stimme unnatürlich kratzig und als würde sie lallen, was ihr einen forschenden Blick des Rettungsassistenten einbrachte. „Sie haben ein paar Prellungen, eine Kopfwunde und vermutlich eine leichte bis mittelschwere..."

„Das Auto. Wie schlimm ist es?" Jetzt entglitt dem Sanitäter für eine Sekunde die Mimik, ehe er sich fing und sich räusperte. Doch auch seine Erklärung, dass sie sich damit nicht auseinandersetzen müsse, das würde die Versicherung tun, half nicht, um die aufsteigende Panik niederzuringen. Sie war auf ein Auto angewiesen und jetzt ein neues zu kaufen, stand hinten und vorne nicht drin!

Sie sah schon Tobis Gesicht vor sich, wie er sie mit diesem gespielt mitleidsvollen Blick ansah, der ihr wieder einmal das Gefühl gab, sie hätte ihr Leben nicht auf der Kette. Was ja stimmt, oder, Ella? Hast du nicht deinen Wagen aus Unachtsamkeit geschrottet? Du bist echt zu blöd zum...

„Ganz ruhig, Frau Brunner. Ihr Blutdruck steigt schon wieder gravierend. Durch die Nase einatmen, Luft halten, durch den Mund aus. Es regelt sich alles, ok? Sie sind, soweit wir das beurteilen können, glimpflich davongekommen und das ist wichtiger als irgendein Sachgegenstand." Sie wollte ihm glauben. Von ganzem Herzen. Aber nun würde sie keine Wahl mehr haben. Sie war so stolz drauf gewesen, ihr neues Leben ohne einen Cent fremdes Geld zu beginnen. Und jetzt das. Das wird ein Festmahl für Tobi werden.

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Rainbow Clouds - Weil Sonne und Regen sich vereinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt