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Ella schlug die Augen auf und seufzte lautlos. Sofort verfing sich ihr Blick auf Bens Gesicht und sie spürte, wie ihr Herz einen Schlag verpasste, weil er so friedlich wirkte. Ihr Kopf hob und senkte sich im Takt seines ruhigen, tiefen Atems, der aus seinem leichtgeöffneten Mund entwich. Oder eingezogen wurde.

Seine Wangen wurden von Bartstoppeln geziert, die sich über Nacht durch die Haut geschoben hatten und sich bestimmt leicht kratzig anfühlen würden, würde sie mit der Hand darüberstreichen. Augenblicklich stieg der Impuls in ihr auf, genau das zu tun. Ihre Finger auf seiner Brust begannen zu zittern, als sie sich dem Drang widersetzte.

Stattdessen lenkte sie sich ab, indem sie sich wieder in die Betrachtung seines Gesichtes vertiefte. Bens Wimpern ruhten dunkel und lang auf seinen Wangen, warfen einen sanften Schatten auf die Haut darunter. Sie mochte es wirklich, wie sie seine grünen Augen umrandeten. Wie sie seine Blicke intensivierten.

Automatisch wanderten ihre Gedanken an die Nacht zuvor, als sie sie ernst angesehen hatten, ehe er genickt und sie kurz darauf sanft von seinem Schoß geschoben hatte. Nur um dann aufzustehen und sie hochzuziehen und händchenhaltend mit ihr zum Bett zu gehen.

Er hatte keinen Ton dabei gesagt. Sie hätte gern gewusst, was er gedacht hatte. Aber sie war auch froh darüber gewesen, dass sie sich nicht mit seinen Gedanken befassen zu müssen. So hatte sie sich nur seufzend zurück in seine Arme kuscheln und sich mit seiner Anwesenheit besänftigen lassen können.

Auch jetzt gerade spürte sie, wie ein Seufzen ihren Brustkorb weitete, um einen Teil der Hilflosigkeit mit sich zu nehmen, die sich in ihrem Innersten manifestiert hatte. Kurz bemerkte sie, wie sich dieses komische, volle Vakuum in ihr mit Luft füllte und sich dann erneut zusammenzog, als der Atem aus ihrem Mund entwich. Es war unlogisch, dass sie sich danach nicht noch leerer fühlte. Sondern irgendwie ein bisschen besser. Als hätte sich stattdessen das Wissen in diesem Loch breitgemacht, dass sie nicht allein war. Dass sie es nicht allein durchstehen musste.

Das hast du schon mal gedacht und am Ende warst du leerer als zuvor und hast dich so klein gefühlt, weil das Vakuum dich praktisch verschlungen hatte. Du warst ein Nichts. Erst später bist du auferstanden und hast dagegen angekämpft, um wieder zu gelten. Was dich die Ehe gekostet hat. Deine heile Familie.

„Sie war nicht heil. Tobi war die Leere. Seine Anforderungen, die mir nicht entsprochen haben. Ben ist nicht er."

„Was?"

Sie zuckte zusammen und ihr Blick klärte sich schlagartig, als dieses Wort durch sie hallte. Erst jetzt bemerkte sie, dass Bens verschlafene, forschende Augen sie interessiert musterten. Sofort bildete sich ein Kloß in ihrem Hals und Hitze kroch über ihr Rückgrat hoch zu ihrem Gesicht. Sie biss sich auf die Unterlippe und schüttelte hastig den Kopf. Das wollte sie nicht erklären. Bitte verlang es nicht. Bitte, Ben.

Einen Moment runzelte er die Stirn und sie musste sich zusammenreißen, dass sie seinem plötzlich unangenehm stechenden Blick nicht auswich, ehe er die Mundwinkel kaum wahrnehmbar hochzog und nickte. Stattdessen lehnte er jetzt seinen Kopf gegen den ihren und entzog sich so ihrer Betrachtung. Wobei du ihn nicht mehr wirklich gesehen hast, bis er auf sich aufmerksam gemacht hat, oder?

Sie konnte trotzdem nicht verhindern, dass sich Erleichterung in ihr breitmachte, sich nicht erklären zu müssen. Der Druck auf ihrer Brust ließ schlagartig wieder nach und sie kuschelte sich automatisch näher an ihn. Drückte die Nase gegen die Stelle unter seinem Ohr, wo sie so toll hinpasste und sein Puls sachte pochte. Wie gerne würde sie hier bleiben und einfach nur seine Wärme spüren?

Doch das ging nicht. Sie musste so vieles erledigen, auch, wenn die Kinder nicht da waren. Sie musste endlich das Schreiben der Rentenkasse beantworten. Damit sie geschieden werden konnte und der Vermögensausgleich stattfinden konnte. Doch jetzt hatte sie Angst davor, die Scheidung voranzutreiben. Immerhin würde da dann auch das Sorgerecht zur Sprache kommen, oder? Das sie wahrscheinlich verlor.

Jäh zog sich ihre Brust wieder zu einem Knäuel aus Knoten zusammen und ihr Herz klopfte wild gegen die stets wiederkehrende Enge an. Auch ihre Hände wurden feucht, wie immer, wenn sie diese Tatsache an die Oberfläche treten ließ. Sie musste es schaffen. Sie durfte sie nicht verlieren. Du bist egoistisch. Sieh dir deine Kinder an. Sie leiden unter dir. Jeder tut das.

„Ich spüre richtig, wie sich die Zahnräder in deinem Kopf drehen, Ella."

Schuldbewusst lehnte sie sich zurück und erhaschte das sanfte Lächeln, das auf seinen Lippen lag, obwohl seine Augen sie erneut musterten. „Ja. Entschuldigung."

Jetzt verfinsterte sich seine Miene, ehe er sich wieder im Griff hatte und er sie ruhig anschaute. „Ich verstehe wirklich nicht, warum du deswegen um Verzeihung bittest. Doch das muss ich wahrscheinlich nicht. Nicht gerade. Was ich sagen will: Wenn dir was im Kopf umgeht, kannst du es mir auch einfach erzählen. Vielleicht ist es danach leichter."

„Sagt der Mann, von dem ich im Grunde nur weiß, dass er in einem Palast mit Whirlpool im Garten lebt, keine Kinder machen kann, deswegen nicht mehr verlobt ist, Gitarre spielt und sein Geld mit dem Entwickeln von Software verdient."

Hastig biss sie sich auf die Zunge, als ihm seine Gesichtszüge entglitten. Ein unbehagliches Kribbeln machte sich in ihr breit, während er sie einen kurzen Moment anstarrte. Dass sich sein Gesicht verschloss, schmerzte sie mehr, als sie hätte ausdrücken können. Dass sie der Grund dafür war, machte sie fertig. Eilig löste sie sich von ihm und schob sich mit der Ausrede, sie müsse aufs Klo, aus dem Bett.

Wie Wölfe fielen sie Selbstzweifel bei jedem Schritt von ihm weg an, während sich sein Blick in ihren Rücken bohrte. Als hätte ein glühender Dolch diese Wunde aufgerissen, pochte das Wissen in ihr, dass sie ihm alles über sich erzählt hatte, wenn man mal von ihrem Elternhaus absah. Während er sich weitestgehend bedeckt gehalten hatte. Ein Grund, weswegen sie sich nicht getraut hatte, ihren Gefühlen nachzugeben, erkannte sie, als sie die Tür des Bades ins Schloss drückte.

Trotzdem bist du ein Ekel. Er ist da. Wieso verletzt du ihn, obwohl er nur helfen will? Wie blöd bist du? Wie unberechenbar? Tobi tut gut daran, deine Kinder vor dir zu schützen. In ihren Augen brannten und Zorn und Abscheu, als sie an ihrem Spiegelbild hängenblieben und sich ihre Hände ans Waschbecken klammerten.

Mit einigen schnellen Atemzügen versuchte sie, sich zu beruhigen. Sie wollte etwas zerschlagen. Beobachten, wie es zersplitterte. So, wie sie alles zum Bersten brachte, das sie berührte. Aber auch, damit es genauso zerbrochen war wie sie. Jetzt gerade fühlte sie sich noch kaputter als sonst. Nicht nur erschöpft. Sondern zerrissen oder zerfetzt. Und wütend.

Ihr ganzer Körper war angespannt und ihre Fingerknöchel hoben sich zitternd und weiß vom komischen beige ihres Waschbeckens ab. Sie war das Letzte. Eine unzumutbare Person, die wild um sich schlug und alle um sich herum nur noch verletzen konnte. Wie Ben. Oder Max. Oder Lara. Egal wen. Erneut raste eine Welle Wut durch ihre Blutbahnen. Sie verbrannte sie von innen heraus und bevor sie wusste, was sie tat, fuhr ihre Rechte auf und schlug gegen den Keramik-Seifenspender, der kurz darauf an der Wand gegenüber zerschellte.

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Rainbow Clouds - Weil Sonne und Regen sich vereinenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt