~ 10 ~

54 4 0
                                    

Ich muss aufhören. Raus aus dem Dschungel, der mich gerade wieder verschlingen möchte. Doch es war schwer. Es schien kaum Licht dorthin zu fallen, wo sie sich befand.

Ihre Brust schmerzte, weil sie sich so verkrampft hatte und das Luftholen so schwerfiel. Die Worte an dem Kloß vorbeizudrücken war unfassbar anstrengend. Sie wollten alle hinaus, wollten ausgesprochen werden. Aber die stockenden Sätze, brannten sich gleichzeitig zurück in ihr Innerstes. Sie wollte das nicht. Ihre Kinder abgeben. Alles in ihr lehnte sich immer wieder gegen diese Möglichkeit auf.

„Ich habe Angst. Solche Angst. Ich versage. Jämmerlich. Das bin ich."

„Ella, hör auf damit, ok? Du bist nicht jämmerlich."

„Doch. Und unfair. Und egoistisch. Und..."

„Öffne die Tür, Sunny. Ich bin da." Verwirrt runzelte sie die Stirn. Er war da? Aber ... wieso? Sie hatte kein Brummen im Hintergrund gehört. Wie konnte er da in einem Auto gesessen haben, um zu ihr zu fahren? Automatisch sah sie sich in ihrem täglichen Chaos um und ihr Blick heftete sich auf das dreckige Geschirr auf dem Couchtisch. „Ella? Es wird kalt. Ich hab mir keine Jacke angezogen."

„Hm. Ja, äh, ja." Doch weiterhin konnte sie sich nicht bewegen. War sie wirklich so unaufmerksam gewesen, dass sie nicht bemerkt hatte, wie er in ein Auto stieg? Wie sollte sie ihm jetzt gegenübertreten?

Schlagartig machte sich auch Panik in ihr breit, während Tobis verständnisvolles Gesicht vor ihr auferstand. Das gleiche, das dann irgendwann nur noch genervt gewirkt und sich in eine Fratze von Eiseskälte gewandelt hatte. Jäh wurde ihr Mund trocken und sie schluckte gegen den anschwellenden Kloß in ihrem Hals an. „Ella?"

„Ja, äh, ja."

„Es ist wirklich kalt."

„Ich kann nicht." Die Worte entschlüpften ihrem Mund, bevor sie sich auf die Unterlippe beißen und sie aufhalten konnte. Nie wieder. Kein Mann durfte diese Macht über sie bekommen. Niemand sie gegen sie einsetzen. Erlebnisse aus der Vergangenheit überrollten sie fast und sie spürte, wie sie zu zittern begann.

„Was meinst du mit ‚ich kann nicht', Ella?" Bens Ungläubigkeit schwang durch seine Worte und marterte sie zusätzlich. Doch sie konnte nicht antworten. Oder sich bewegen. Sie wollte, aber es ging nicht. Zu viele Kugeln, die sie trafen und durchsiebten. „Ella."

„Ich bin nicht nicht lebensfähig." Ihr Wispern durchbrach die Stille, die sie umgab und Bens leise Atemzüge und sie hörte, wie sie abbrachen, weil er offenbar keine Luft einsog. Schlagartig quollen erneut vorher versiegte Tränen aus ihren Augen und rollten brennend über ihre Wangen. „Ich bin nicht nicht lebensfähig."

„Ella, ich möchte, dass du jetzt die Tür öffnest. Sofort. Wie kommst du auf die Idee, ich würde denken, du wärst nicht lebensfähig?"

Ein Schluchzen brach über ihre Lippen und hallte ohrenbetäubend in ihrem Kopf nach, sodass sie den Impuls unterdrücken musste, sich die automatisch geballte Faust der freien Hand an ihr Ohr zu pressen. Zu viel, zu laut, zu hart.

Wiederholt gellten diese Worte durch ihren Kopf und lieferten sie den hungrigen Wölfen zum Fraß aus, die nun aus dem Dickicht ihrer Gedanken auftauchten. Sie mit glühendroten Augen umkreisten. Ihre Bahnen immer enger zogen. Kein Entkommen.

„Ella, ich bitte dich. Öffne die Tür. Dich so weinen zu hören, macht mich fertig."

Automatisch biss sie sich auf die Unterlippe und wollte ihr Schluchzen stoppen. Niemand sollte sich schlecht wegen ihr fühlen. Doch jeder fühlt sich in deiner Gegenwart schlecht, Ella. Du bist die Dunkelheit, die das Licht verschluckt und alle in die Finsternis stößt. In ein tiefes Loch, das sie verschlingt.

„Oh, hallo. – Hallo. – Wollen Sie ins Haus? – Ja, ich möchte gern hinein. Ella von oben besuchen. – Man sieht sie zurzeit selten. Geht es ihr gut? – Ähm, äh..." Sie identifizierte die zweite Stimme als die ihrer Nachbarin und e. Ein Ruck zuckte durch sie. Das ging nicht. Nein. Sie musste was tun. Sofort. Schon während der Gedanke durch ihren Kopf tobte, hatte sie sich vom Sofa geschoben und war in den Flur gegangen, um auf den Summer zu drücken.

Wie kam es, dass ihre Tränenproduktion jäh erstarb, wenn sie sich erschreckte? Überhaupt war es doof, ständig zu heulen. Es kostete Kraft. Sollte entlasten, tat es aber nicht. Weil sie sich noch unvollkommener fühlte, wenn sie flennte. Verlangte Zeit, die sie nicht hatte. Unmassen zu tun.

Durch die Tür hörte sie, wie Ben sich von ihrer Nachbarin verabschiedete – oder kam es aus dem Telefon, das sie weiterhin in ihrer Hand hielt? Kurz darauf waren die Schritte zu vernehmen, als Ben die Treppe hinauf hastete und sie riss die Tür auf. Die Sekundenbruchteile schienen sich auf die Unendlichkeit auszudehnen, als sich ihre Blicke trafen und sie wieder erstarrend in Tränen ausbrach. Er ist da.

Ihr Herz wollte offenbar irgendwann wegen Übermüdung kapitulieren, weil es in ihrem Brustkorb raste, sodass es jeden Moment aussetzen musste. Sie wollte zu ihm gehen und sich in seine Arme schmeißen. Doch ihre Beine gehorchten nicht. Sie blieben an Ort und Stelle, während der Sturm in ihrem Inneren die Bäume in ihrem Gedankendschungel entblätterte. Sie hatten die Farbe von Bens Augen, die sie so ernst ansahen.

Weiterhin stand sie heulend vor ihm, als er die wenigen Schritte überbrückte und sie schweigend in seine Arme zog. Ein Schluchzen brach über ihre Lippen und sie schmeckte den metallischen Geschmack ihres Blutes. Sie musste zu fest auf ihre Unterlippe gebissen haben, damit kein Laut aus ihrer Kehle dringen konnte. Doch es war ihr einerlei, ab dem Moment, als sie kraftlos an seine Brust sackte und seine Arme sie umschlangen.

„Ok, Sunny, ich bin jetzt da." Sein Flüstern ließ den Sturm in ihr noch mehr aufbrausen. Es war ihr, als würde er nun nicht nur Blätter von den Bäumen des Dschungels reißen, sondern komplette Baumstämme umknicken. So viele Gefühle, denen ich nicht standhalten kann.

Der typische Ben-Geruch hüllte sie ein und marterte sie im gleichen Maße, wie er sie beruhigte. Sie konnte nicht mehr. Es war zu schwer. Ihr Leben ohne Ben zu meistern. Ihm zu widerstehen. Doch richtig war es nicht. Sie wusste es. Dennoch konnte sie in diesem Moment nichts anderes tun, als sich seiner Wärme zu ergeben. Seiner Gegenwart. Ihm.

Sie merkte, wie sich die Finger ihrer freien Hand automatisch in seinem Haar verfingen und sich mit den halblangen blonden Strähnen verknoteten, während sie ihr Telefon in seinen Rücken bohrte, um ihn noch näher zu ziehen. Es war nicht genug, dass sich ihr Körper an seinen presste. Gerade nicht.

„Ok, Ella. Schon ok. Ich geh nicht weg." Kaum zu hören raunte Ben diese Worte in ihr Ohr und das Schluchzen, das als Antwort aus ihr hervorbrach, legte sie noch mehr lahm. Sie spürte, wie er sie behutsam zurück in die Wohnung drängte. Augenblicklich setzten sich ihre Beine in Bewegung und folgten seinem stillen Befehl.

Sie vermisste schmerzlich die Wärme, die er ihr entzog, als er die Wohnungstür neben ihnen in ihrem schmalen Flur schloss. Doch dann umschlang seine Gliedmaße sie sofort wieder und sie spürte, wie sein Körper erneut Druck gegen ihren ausübte. Ohne darüber nachzudenken, ließ sie sich von ihm in ihr Wohnzimmer manövrieren.

Sie konnte ohnehin keine Gegenwehr leisten. Denn ihr Körper erzitterte weiterhin unter den Schluchzern, die nun ihre Kehle hinaufkletterten, ihr dabei alles verätzten und einen schalen Geschmack auf ihrer Zunge hinterließen, bevor sie ihren Mund verließen. Schließlich spürte sie die Kante ihres Sofas an ihren Kniekehlen.

****************************

Rainbow Clouds - Weil Sonne und Regen sich vereinenWhere stories live. Discover now