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Ella schlug die Augen auf und tastete verschlafen nach ihrem Telefon, um den Wecker auszuschalten. Ehe sie die Stirn runzelte. Sie hatte tatsächlich geschlafen! Verwirrt schaute sie an die Holzdecke, bis sich der Nebel in ihrem Kopf lichtete und Bens sanfter Bariton durch ihre Gedanken spukte.

Automatisch entwich ihr ein Seufzen, ehe sie die Bettdecke zusammenknüllte und ihren Kopf nochmal drauf platzierte. Sie hatte keine Ahnung mehr, was Ben ihr genau erzählt hatte. Nur, dass seine Stimme sie eingelullt hatte, das wusste sie noch.

Sofort schimpfte sie ihr verräterisches Herz, weil es beim Gedanken daran, ihn gesprochen zu haben, einen Hops in ihrer Brust machte. Sie hatte sich doch geschworen, zuerst ihr Leben in den Griff zu bekommen! Wieso war sie dann schwach geworden? Weil du ihn liebst.

„Liebe kann dir auch nicht helfen, Ella. Keiner kann dir helfen. Nicht wirklich. Es war eine Nacht, in der du schlafen konntest. Unbedeutend, wenn du sonst nichts geregelt bekommst. Schieb deinen Arsch aus dem Bett und hör auf, dich wie eine Idiotin zu verhalten. Kümmere dich besser darum, was du so aufschiebst."

Unwillig schlug sie die Decke zurück und erhob sich ächzend. Sofort war wieder diese bleierne Müdigkeit da, die ihre Bewegungen versteifte. Trotzdem bemerkte sie, dass sie sich etwas weniger roboterhaft bewegte als sonst. Das war gut. Immerhin. Ein bisschen besser war gut.

Sie schlurfte dennoch ins Bad, als wären Gewichte an ihren Beinen befestigt und ließ sich stöhnend auf der Toilette nieder. Ihr Blick fiel automatisch auf das verstaubte, mit Zahnpasta-Resten verschmutzte Waschbecken und angewidert zog sie die Augenbrauen hoch. Noch etwas, was sie nicht schaffte. Die Kalkflecken auf dem Chrom des Wasserhahns stachen ihr ebenfalls in die Augen und sie zwang sich, den Blick abzuwenden und nicht in eine Starre zu verfallen.

Diesmal gelang es ihr. Ansonsten starrte sie oft minutenlang auf das Corpus Delicti, das ihr zeigte, wie wenig sie ihr Leben im Griff hatte. Doch heute konnte sie sich davon loseisen. Sie stand auf und spülte, ehe sie sich zum Waschbecken umdrehte und sich die Hände wusch.

Bei der Gelegenheit nahm sie sich die Zeit, noch kurz den Staub auf der Ablage abzuwaschen und zumindest über die Zahnpastaflecken zu reiben, bis sie verschwunden waren. Der Kalk musste warten. Aber immerhin war das Becken nun nicht mehr so verschmutzt. Seufzend verließ sie den Raum, nachdem sie sich beiläufig einen Blick im Spiegel zugeworfen hatte.

Sie hatte tiefe, dunkle Ringe unter ihren braunen Augen und die Winkel ihrer schmalen Lippen hingen leicht hinunter. Die Haut war weiterhin fahl und ihre Stirn war immer noch gerunzelt. Sie hatte sonst keine Falten. Nicht wirklich. Nur um die Augen. Wenn sie lächelte. Aber ihr Mund schien verlernt zu haben, wie das funktionierte. Als hätte ich mir Botox injizieren lassen.

Schulterzuckend betrat sie die Küche und schaute sich um. Das Geschirr vom Essen gestern stapelte sich auf dem Tisch und war eingetrocknet. Genauso wie die Reste auf ihrem Teller, nachdem sie die Gabel zur Seite gelegt hatte. Mehr als ein paar Bissen brachte sie selten hinunter. Und zu denen zwang sie sich, damit die Augen ihrer Kinder sie nicht so unfassbar besorgt anschauten. Zeit, in die Pütten zu kommen, mein Tag ist vollgepackt.

Sie überwand sich, die lähmende Untätigkeit abzustreifen, und trat an das Küchenbuffet, um sich eine Tasse herauszunehmen. Zumindest Kaffee brauchte sie, um etwas das Gefühl zu haben, funktionieren zu können. Normalität war gut. Trotzdem wusste sie bereits jetzt, dass der Koffeinschub scheußlich schmecken und kaum Effekt auf die Müdigkeit haben würde. An was das wohl liegt, Ella?! Vielleicht daran, dass auch in der Kaffeemaschine der Kalk ein mehrwöchiges Festival feiern könnte?

Kurz hallte eine Ermahnung durch ihren Kopf, dass sie die Maschine entkalken musste, bevor das Gerät kapitulierte. Sie konnte es nicht brauchen, noch etwas ersetzen zu müssen. Die Reparatur ihres Autos hatte genug Geld verschlungen. Geld, das sie nicht gehabt hatte. Das sie sich hatte pumpen müssen. Von Sarah. Wie tief sie gesunken war. Verliererin. Du bist das Letzte.

Sie spürte, wie die Gedanken auf sie einfielen und sich wieder in schwindelerregender Geschwindigkeit in ihrem Kopf drehten. Doch bevor sie sich in dem Strudel verlieren konnte, umschlangen sie kleine Arme und sie zuckte automatisch zusammen.

Jäh wurde ihr die Wärme entzogen, die von den Ärmchen ausgegangen war und sie schaute in die weitaufgerissenen blauen Augen ihres kleinen Lieblings. Wie sie den Ausdruck auf seinem Gesicht hasste. Du solltest kapitulieren und Tobi das Zepter geben. Du verängstigt ihn. Verliererin. Rabenmutter.

Stattdessen gebot sie ihren Gesichtsmuskeln, ihre Mundwinkel anzuheben, damit sie zumindest ein zittriges Lächeln zustande brachte. Ihre Finger fanden automatisch einen Weg zu seinem blonden Haar, um hindurch zu streichen, und sofort flatterte ihr Herz. Wie sehr sie ihn liebte. Genauso wie Lara, die sie ebenfalls besorgt anschaute von ihrem Platz im Türrahmen aus.

„Hey, ihr zwei. Guten Morgen. Habt ihr gut geschlafen?" Ihre Stimme klang nicht so leicht, wie sie sich das erhofft hatte. Eher kratzig. Trotzdem blitzte kurz Erstaunen in den Gesichtern ihrer Kinder auf und sie fragte sich, wieso sie diese Tatsache so betroffen machte. Wie muss ich denn sonst klingen, wenn meine Lieblinge so reagieren?

Sofort baute sich wieder diese Mauer zwischen ihnen auf, die sie tagtäglich erklimmen und überwinden wollte und deren Steine aus Selbstzweifel, Angst und Besorgnis bestanden. Sie vermisste die Lächeln, die zuvor so alltäglich gewesen waren. Weil du nur noch ein verdammter Roboter bist, der seinen Dienst tut und nicht mehr ihre Mutter! Natürlich merken sie das. Sie sind doch nicht blöd! Mach was!

„Wisst ihr, was ich letzte Nacht geträumt habe?" Verwirrung schlich sich auf die Gesichter vor ihr und ihre Brust zog sich noch mehr zusammen. Einerseits deswegen, weil sie ihre Kinder wohl so verstörte, dass sie irritiert auf so eine Aussage reagierten, andererseits, weil sie Lügen hasste.

„Ich habe geträumt, wir sind alle Vögel und fliegen über eine Weite. Ich glaube, wir sind in den Süden geflogen, so wie das Zugvögel machen. Es hat sich einfach wunderschön angefühlt, den Wind unter den Federn zu spüren." Sie bemerkte, dass Lara die Stirn runzelte und ihr Kinn vorschob. Doch die Augen von Max leuchteten auf und ein Lächeln huschte auf sein Gesicht.

„Wohin sind wir geflogen?" Ihr Herz hatte sich noch nicht ganz von seiner Reaktion erholt. Weiterhin klopfte es hart gegen ihre Rippen, während sie dachte, sie würde sehen, wie ein Stein in der Mauer wackelte.

„Ich glaube, hm, ich weiß es nicht genau, aber ich denke, wir sind nach Afrika geflogen. Dahin, wo es wärmer ist, jedenfalls. Dorthin, wo die Sonne strahlt." Ihr Atem wollte schwallartig entweichen, als sich jetzt noch tiefempfundene Freude auf seiner Mimik manifestierte.

„Meinst du, wir würden da Löwen sehen?" Zu ihrer Überraschung spürte sie, wie der Druck auf ihre Wangen nachließ, als sich ein leises Zupfen von Belustigung in ihr breitmachte.

„Auf jeden Fall. Wer ist der König der Savanne?"

„Mufasa. Bevor sein Bruder Scar ihn tötet, weil er böse ist. Dann Simba." Das Zupfen verwandelte sich in ein sachtes Kribbeln und Ella nickte.

„Ganz genau. Und ich glaube, die wollten wir besuchen."

„Coooool."

Jäh stieg ein Glucksen ihre Kehle hinauf und polterte aus ihrem Mund, bevor sie überhaupt begriff, was passierte. Erstaunt suchte sie Laras Blick, deren Augenrollen schlagartig endete und die ihre Augenbrauen ruckartig hochzog. Was sie verstand. Nur Max strahlte sie jetzt an, was ihr Herz heftiger gegen ihr Brustbein schlagen ließ.

Sie konnte nur nicken, während Freude mit Ergriffenheit in ihr um die Vorherrschaft kämpften. Was Max zum Glück nicht auffiel, denn der erging sich in seinen Fantasien rund um Disneys König der Löwen. Er plapperte mit funkelnden Augen davon, welche Abenteuer Mufasa mit Simba erlebte.

Sie unterdrückte ein Kopfschütteln und lauschte ihrem Sohn, während sie mit zitternden Händen begann, das Frühstück sowie sein Pausenbrot vorzubereiten. So vergnügt hatte sie ihn schon lange nicht mehr gesehen. Und das, obwohl sie doch alles falsch machte. Sonst. Heute wohl nicht.

Als sich schlagartig Bens Stimme und sein Gesicht mit den intensiven grünen Augen in ihren Gedanken aufbaute, schickte sie ihm ein stilles Dankeschön und legte für ihren kleinen Löwen eine Extrascheibe Salami auf sein Brot. Während sie ihm zuhörte, erstarrte sie kurz, als etwas eintrat, was sie schon lange nicht mehr gefühlt hatte: ein Hauch Frieden.

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Rainbow Clouds - Weil Sonne und Regen sich vereinenWhere stories live. Discover now