Kapitel 32

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Als Cypher am nächsten Morgen aufstand, schlief Aaron noch. Er war die ganze Nacht unruhig gewesen, also entschied er sich, ihn noch schlafen zu lassen. Erinnern. Was, wenn sich Aaron erinnern konnte?

Während sein Dämon das Bett verließ, drehte sich Aaron unterbewusst. Sein Gesichtsausdruck war verkniffen, denn er war in einem Traum gefangen.

„Aaron. Du hast von uns beiden die beste Überlebenschance. Befreie dich und töte mich. Es ist in Ordnung", flüsterte eine Stimme an seinem Ohr. Dann wurde alles schwarz, war verschwommen.

Wenige Herzschläge später stand er über einem Jungen mit kurzen dunkelblonden Haaren und hellblauen Augen gebeugt. Das Leben wich aus dessen Augen und sein Herzschlag verstummte. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln, welches ein Abschiedsgruß an ihn war. Oh Gott. Es tut mir so leid. Was habe ich getan?

Er keuchte, krallte sich in die Bettdecke. Sein Körper zitterte, doch er wachte nicht auf. Er war gefangen.

Stumm stand er auf dem Balkon des Hochhauses, schaute in die Ferne. Die Dunkelheit lastete auf ihm und er wusste, er hatte seine Grenze erreicht. Weiter habe ich es nicht geschafft. Es tut mir leid, du bist umsonst für mich gestorben. Sein einziger Freund hatte sein Leben für jemand wertloses wie ihn weggeworfen. Es ist Zeit, dass wir uns wiedersehen. Sein Blick wanderte in den Abgrund.

„Wir müssen los", erklang eine weibliche Stimme und er drehte sich um. Ihre eingehenden dunkelgrünen Augen und hellblonden Haare unterstrichen die Schönheit, die sie als Waffe nutzte, doch diese ließ ihn kalt. Er hatte schon lange jegliche Bedürfnisse verloren, jegliche Emotionen – war zu einer leeren Hülle geworden, die nur aus einem Grund noch existierte.

Stumm trat er zu der Frau, die ihm als Partnerin zugewiesen worden war. Diese zögerte einen Moment. „Worauf wartest du, Sharin?", erklang seine emotionslose Stimme.

Aaron zog die Beine an, sein Herz schlug schneller, sein Atem beschleunigte sich.

Das Feuer raste durch seine Brust. Der Schmerz raubte ihm den Atem und seine Lunge rebellierte. Unaufhörlich lief das Blut aus seinem Körper, nahm die Wärme mit sich, sodass sich die Kälte beginnend bei den äußersten Gliedmaßen weiter zum Zentrum seines Körpers vorarbeitete. Mit jeder Sekunde, die verging, wurde sein Herzschlag langsamer, sein Atem flacher. Die Geräusche um ihn herum wurden dumpf und ein Pfeifen ertönte in seinen Ohren.

„Es tut mir leid, aber es musste sein, Меньший", erklang die weiche Stimme, die ihn verraten hatte.

Mit einem Schrei schoss er nach oben. Er griff sich an die Brust, suchte nach dem Messer, das diese durchdrungen hatte, doch dort war nur gesunde Haut. Sein Puls dröhnte in den Ohren und er brauchte, bis er realisierte, dass er nicht dort war, dass es ein Traum gewesen war. Er war schweißgebadet. Zitternd fuhr er sich über das Gesicht. „Warum?"

Er erhob sich und ging in den Waschraum. Nach und nach beruhigte er sich, doch er konnte sie sehen – sie standen lebendig vor seinen Augen.

Dinge, die man im Traum sah, verblassten meist in den ersten Sekunden nach dem Aufwachen. Das war jedoch nicht der Fall. Er konnte jedes Detail sehen, schaute auf seine Hände. Für einen Moment waren diese blutrot und er schnappte nach Luft. Einen Wimpernschlag später waren sie normal. Er umschlang sich. „Das ist ein böser Traum. Nur ein Traum." Doch Aaron wusste, dass dem nicht so war. Er wusste, was er gesehen hatte.

„Ich habe mich entschieden", presste er hervor.

Nun wusste er auch, weshalb sein Gefährte ihm nichts von seiner Vergangenheit erzählt hatte, weshalb selbst Lucifer gezögert hatte. Ich war ein Monster. Anders konnte er es nicht beschreiben. Diese Leere, diese Dunkelheit – das wollte er nicht erneut spüren. Was, wenn ich zu dem werde, wenn ich mich erinnere? Die Angst saß ihm tief in den Knochen und das warme Wasser schien ihn nicht von dem Eis befreien zu können, das ihn wie ein Mantel einhüllte.

Cypher - ein schicksalhafter Blick (BAND 4) ✅️Where stories live. Discover now