acht

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Am nächsten Tag ist endlich Wochenende. Trotzdem kann ich es nicht wirklich genießen, denn schon am Morgen plagen mich wieder Vorgefühle. Das kann doch nicht sein, denke ich. Erst vorgestern hatte ich einen Anfall, und heute soll direkt der nächste kommen? In so einer Frequenz hatte ich selbst in den schwierigsten Zeiten bisher keine Anfälle. Was, wenn ich jetzt plötzlich übervorsichtig werde und mir das nur einbilde?

Ich bleibe noch ein bisschen liegen und mache mich dann fertig für den Tag. Ich habe keine besonderen Pläne am Wochenende. Dadurch, dass ich keine richtigen Freundinnen habe, mit denen ich mich auch in der Freizeit treffe, habe ich das selten.

Ich gehe runter in die Küche, wo Mama und Papa schon am Frühstückstisch sitzen. Es riecht nach Brötchen. „Guten Morgen.", begrüße ich sie.

„Morgen, Malu.", sagt Papa. „Gut geschlafen?"

Ich nicke und setze mich auf meinen Platz. Dann nehme ich das Brotmesser in die Hand, um ein Brötchen aufzuschneiden.

„Wie geht es dir?", erkundigt sich Mama.

„Gut.", bringe ich noch hervor. Ich beschließe, dass es keinen Sinn ergibt, ihnen von meinen Vorgefühlen zu berichten. Ich bin mir ja selbst nicht mal sicher, ob ich mich nicht vielleicht täusche und ich will keine unnötige Angst verbreiten. Gerade meine Eltern neigen dazu, etwas überbesorgt zu sein.

Mein Plan bleibt jedoch nicht lange wirksam. Im nächsten Moment verschwimmt die Welt vor meinen Augen und kippt schließlich weg. 

***

Theos Perspektive

Ich bin ziemlich müde am Samstagmorgen. Nachdem die Jungs gestern weg waren, hat es noch eine Weile gedauert, das Wohnzimmer aufzuräumen. So richtig ausgeschlafen bin ich also nicht. Trotzdem quäle ich mich aus dem Bett und laufe nach unten in die Küche - einschlafen könnte ich sowieso nicht mehr.

Als ich die Tür öffne, werde ich jäh aus meiner Müdigkeit gerissen. Malu liegt auf dem Boden. Sie scheint vom Stuhl gefallen zu sein. Ich treffe genau in dem Moment ein, als meine Eltern synchron von ihren Stühlen aufspringen.

Die Szene, die sich mir bietet, ist unheimlich und schockierend. Sie wird mich noch Monate später verfolgen. Malu beginnt gerade zu krampfen. Ihre Stirn blutet von dem ungebremsten Aufprall auf den Boden. Erst jetzt fällt mir das Brotmesser in ihrer Hand auf.

Während meine Eltern auf sie zugeeilt sind, stehe ich wie angewurzelt in der Ecke. Wenn Malu Anfälle hat, funktioniere ich meistens einfach, auch wenn es mir manchmal Angst macht. Doch in diesem Moment bin ich völlig überfordert und funktioniere überhaupt nicht.

Papa scheint in seine Rolle als Arzt verfallen zu sein – etwas, was ihm hilft, damit umzugehen. Und auch Mama wirkt routiniert und wenig emotional. Nachdem sie die Möbel außerhalb von Malus Reichweite geschoben haben, widmet Mama sich mit einem Handtuch dem Messer, das durch die zuckenden Bewegungen immer wieder haarscharf an Malus linker Wange vorbeisaust. Vielleicht sollte ich besser weggucken, doch ich kann nicht.

Zum Glück schafft es Mama nach einer kurzen Weile, das Messer in Sicherheit zu bringen. Papa versucht unterdessen, Malu in eine Position zu bringen, die einigermaßen komfortabel aussieht. Er schiebt ihr ein Kissen unter den Kopf.

Anschließend stehen auch meine Eltern nur abwartend daneben und schauen sich das Ganze an. Papa schaut stoisch auf die Uhr. „Es sollte gleich aufhören.", murmelt er, vielleicht auch, um sich selbst davon zu überzeugen.

Doch es hört nicht auf. Eine Zeit lang ist alles, was zu hören ist, das röchelnde Geräusch, was Malu von sich gibt. Ich bin froh, dass sie von all dem nichts mitbekommt. Es muss schrecklich sein, keine Luft zu bekommen.

„Drei Minuten.", sagt Papa. „Danach wird das Gehirn nicht mehr ausreichend versorgt."

Ich habe nicht auf die Uhr geschaut, doch mein Zeitgefühl sagt mir, dass die drei Minuten schon vorbei sind.

Mama und Papa werfen sich einen Blick zu, Papa nickt. Malus Gesicht verfärbt sich wieder bläulich, wie vor ein paar Tagen auf dem Schulhof. Mama nimmt hektisch das Notfallmedikament aus der Schublade, öffnet die Packung und gibt es ihr in die Wange.

Ich kneife die Lippen zusammen. Ich weiß, dass Malu es hasst, dieses Medikament zu bekommen. Aber das hier ist wirklich grenzwertig. Und dass Malu langfristige Schäden davonträgt, will niemand verantworten.

Eine Weile dauert es noch, dann hört sie endlich auf zu krampfen. Doch diese Weile fühlt sich an wie eine unerträgliche Ewigkeit, in der immer mehr das Leben aus meiner Schwester zu weichen scheint und ihr Gesicht eine ungesunde, leblose Farbe annimmt.

Als es vorbei ist, fange auch ich wieder an zu atmen. Erst jetzt merke ich, dass ich zittere. Mama tupft mit einem Tuch Spucke und Blut aus Malus Gesicht. Anschließend hebt Papa ihren völlig erschlafften Körper hoch, um sie auf das Sofa zu legen.

Mama kommt zu mir und nimmt mich in den Arm. Ich erwidere die Umarmung. Ich spüre, wie Tränen in meinen Augen brennen. „Alles gut.", sagt Mama leise. „Wir haben es geschafft."

„Das war ganz schön knapp.", erwidere ich. Ich bin immer noch am Zittern. Das Bild von Malu mit dem Messer geht mir nicht aus dem Kopf.

Mama antwortet darauf nichts, was mir Bestätigung genug ist. „Wir werden einen Krankenwagen rufen. Du musst nicht dabei sein.", sagt sie.

„Will ich aber.", sage ich stur. Noch schlimmer, als das alles mitzubekommen, ist für mich die Unwissenheit, was vor sich geht, und nichts tun zu können.

Mama und ich gehen zu Papa und Malu ins Wohnzimmer. Sie ist tief am Schlafen und reagiert nicht auf Papas fachmännische Versuche, sie irgendwie wach zu bekommen. Ihr Gesicht ist blass und sieht immer noch beinahe bläulich aus. Vielleicht liegt das auch an der Wunde auf ihrer Stirn, aus der unaufhaltsam das Blut fließt.

Ich hocke mich an das Ende des Sofas und streiche mechanisch über Malus Schulter. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt irgendetwas davon mitbekommt. „Ich habe einen Krankenwagen gerufen.", informiert Mama uns. „Der sollte jeden Augenblick hier sein."

Papa nickt. „Sehr gut." Er versucht, die Blutung auf ihrer Stirn zu stoppen. „Malu? Malu, hörst du mich?", fragt er laut und streicht ihr über die Wange.

Malu öffnet ihre Augenlider, doch ihre Augen sind verdreht und scheinen nichts wirklich fassen zu können. Kurz schaut sie Papa an, dann sieht man nur noch das Weiße und sie schließt die Augen wieder.

Ich schaue Papa ratlos an. „Alles gut.", sagt er beruhigend. „Aber es ist wichtig, dass sie jetzt ins Krankenhaus gebracht wird."

Da hat er Recht. Ich bin zwar kein Arzt, aber zwei Anfälle innerhalb von wenigen Tagen müssen wirklich nicht sein. Zumal beide Anfälle wirklich stark und lang waren. Irgendetwas scheint mit ihren Medikamenten nicht mehr zu stimmen.

In diesem Moment klingelt es an der Tür. Kurze Zeit später kommt Mama mit zwei Sanitätern in das Wohnzimmer.

„Hallo, zusammen. Hi, Christoph.", begrüßen sie uns. Sie scheinen Papa aus dem Krankenhaus zu kennen. Mir kommen sie ebenfalls bekannt vor. Dadurch, dass früher bei uns ständig der Krankenwagen vor der Tür stand, kennen wir die meisten Sanitäter:innen mittlerweile. Die Einzige, die davon kaum etwas mitbekommen, ist Malu.

Ich trete ein paar Schritte zurück, um die beiden und Papa ihre Arbeit machen zu lassen. Mama legt einen Arm um mich. In diesem Moment fühle ich mich wie der kleine, dreizehnjährige Junge, der zum ersten Mal seine Schwester nach einem Anfall gesehen hat. Irgendwie bin ich mit der Zeit in meine Rolle als großer Bruder hineingewachsen. Aber manchmal ist es dennoch schwierig, mit all dem umzugehen. Ständig Angst zu haben und sich verantwortlich zu fühlen. Manchmal brauche ich einfach jemanden, der mich in solchen Momenten in den Arm nimmt und der auch mir sagt, dass alles gut wird.

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