neununddreißig

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Als ich irgendwann aus einem tiefen und traumlosen Schlaf wieder erwache, habe ich jegliches Zeitgefühl verloren. Der Schlaf nach einem Anfall fühlt sich für mich an wie ein Stück Zeit, das einfach fehlt, wie ein Schnitt in meinem Leben. Desorientiert blicke ich mich um. Ich bin alleine in einem Zimmer im Krankenhaus.

Nachdem ich mir ein paar Minuten Zeit gegeben habe, um wach zu werden, richte ich mich mühsam auf. Ich fühle mich, als hätte mich ein Schwertransporter angefahren. Ich will gerade nach der Flasche Wasser auf dem Nachttisch neben dem Bett greifen, als sich die Zimmertür öffnet. Theo tritt herein.

"Hey! Du bist wach.", sagt er zur Begrüßung. Das Lächeln auf seinen Lippen wirkt etwas gequält.

"Ja.", sage ich undeutlich, kann sein Lächeln jedoch nicht erwidern. Meine Kehle ist staubtrocken und gereizt. Bruchstückhaft erinnere ich mich daran, wie ich mich in der Notaufnahme übergeben musste. Theo tut mir den Gefallen und schenkt mir ein Glas Wasser ein, das ich gierig trinke. Zum Glück scheint mein Magen es ebenfalls zu akzeptieren. 

"Was ist passiert?", frage ich schließlich.

Theo setzt sich an die Kante meines Bettes. "Erinnerst du dich an gar nichts?"

Ich denke kurz nach. Ich erinnere mich an den Streit mit Mama, daran wie ich zu Josh gegangen bin, den Tag mit ihm verbracht habe und seinen Vater kennengelernt habe - doch danach ist nichts mehr. Ich schüttele den Kopf.

Theo seufzt. Irgendwie verhält er sich merkwürdig, auch wenn ich nicht ganz einordnen kann, wieso und auf welche Weise. "Du hattest gestern bei Josh einen Anfall. Direkt nach dem Frühstück, in der Küche. Du hast dir eine Platzwunde am Kinn zugezogen und eine Gehirnerschütterung. Der Notarzt musste kommen, weil wir dein Notfallmedikament nicht finden konnten."

Ich versuche, meine Gedanken so zu ordnen, dass ich mich vielleicht an irgendetwas vom gestrigen Vormittag erinnern kann - doch da ist nichts außer eine einzige, große Lücke. Frustriert gebe ich auf. 

Es war absehbar gewesen, dass der nächste, schwere Anfall kommen würde, und auch, dass ich dann wieder mit irgendwelchen Verletzungen im Krankenhaus landen würde. Trotzdem macht es mich wütend und traurig. Ich habe mich so auf meine Ferien gefreut, und jetzt bin ich wieder hier. Ich hasse es.

"Was ist mit Josh?", frage ich. Auch wenn ich meine Familie liebe, habe ich das Gefühl, dass er der einzige ist, der mich in diesem Moment irgendwie glücklich machen und zum Lächeln bringen könnte. Mit ihm ist es einfach etwas anderes. Etwas besonderes.

Es kommt keine Antwort von Theo, stattdessen herrscht für einen Moment Schweigen. Kurz denke ich, dass er mich nicht gehört hat, und wende mich Theo zu - doch an seinem Gesichtsausdruck kann ich erkennen, dass er mich sehr wohl gehört hat. Und dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmt.

"Theo?", frage ich alarmiert. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Mein Bruder hat die Lippen leicht zusammen gekniffen und weicht meinem Blick zunächst aus, dann jedoch treffen sich unsere Blicke. Sein Gesicht spricht Bände. "Wo - ist - Josh?", frage ich erneut, wobei ich jedes einzelne Wort betone.

Theo holt tief Luft. "Er... Er wird nicht kommen.", bringt er dann hervor.

Ich richte mit ungeahnter Kraft meinen Oberkörper im Bett auf. Anspannung macht sich in mir breit und meine Hände beginnen nervös zu kribbeln. "Was meinst du damit?" Meine Stimme klingt dünn. Vermutlich deshalb, weil ich insgeheim schon genau weiß, was er damit meint. Mein Unterbewusstsein weiß, dass ich ihn verloren habe. Doch ich bin von Theo abhängig, er ist es, der die Worte jetzt aussprechen muss.

In Theos Blick liegt Schmerz und Mitleid, als er weiterspricht. "Josh hat mir gesagt, dass er nicht kommen wird.", sagt er in dem verzweifelten Versuch, seine Stimme beherrscht und kontrolliert klingen zu lassen. "Er meinte... er hält das nicht mehr aus. Er möchte nicht mehr mit dir zusammen sein."

Irgendetwas bricht in mir zusammen. Die Spannung scheint aus meinem Körper zu weichen und ich breche zusammen. Ich krümme mich nach vorne, als könnte ich dadurch irgendwie dem Schmerz begegnen, der sich in mir ausbreitet, und umklammere meine Beine, als könnte ich dadurch meine Einzelteile zusammenhalten. Doch es hilft nichts. Ich bin kaputt.

Mein ganzer Körper zittert, dann bricht ein Schluchzen aus mir heraus, dann fange ich an zu weinen. Theos Arme legen sich um mich, doch ich nehme sie nur entfernt wahr. "Malu... Du schaffst das. Ganz ruhig, es wird alles wieder gut.", sagt er verzweifelt, doch ich schüttele nur den Kopf. Wie soll jemals etwas wieder gut werden? 

In diesem Moment ist all der andere Schmerz und die Verzweiflung über meine Anfälle wie weggeblasen - da ist nur dieser eine, dumpfe, alles einnehmende Schmerz darüber, dass ich Josh verloren habe, der meinen ganzen Körper unangenehm zu betäuben scheint.

Ich versuche zu atmen, doch es ist, als könnte keine Luft in meine Lunge gelangen - mein Brustkorb fühlt sich an wie eingeschnürt. Ich schnappe nach Luft, werde jedoch von einem weiteren Schluchzer unterbrochen. Theo packt meine Oberarme und richtet meinen Oberkörper auf. "Malu! Atmen, ganz ruhig."

Ich schaue meinen Bruder an. Meine eigene Verzweiflung spiegelt sich in seinen Augen. Irgendwie schaffe ich es, etwas Luft in meine Lunge zu lassen.

"Was ist-", höre ich plötzlich Mamas Stimme. Ich weiß nicht, wann sie das Zimmer betreten hat, doch jetzt spüre ich ihre Hand an meinem Rücken. Ich blicke auf. "Josh.", bringe ich hervor. Josh ist los. 

controlWhere stories live. Discover now