fünfunddreißig

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Am nächsten Tag schlafen Josh und ich aus. Ich werde in den Morgenstunden zwar immer wieder wach, doch in seinen Armen zu liegen, fühlt sich so gut an, dass ich mich noch einige Male umdrehe und an ihn kuschele. Ihm scheint es ähnlich zu gehen. Als ich schließlich zum ersten Mal auf die Uhr schaue, ist es bereits elf Uhr. Wäre ich alleine gewesen, wäre ich wohl längst aufgestanden - doch mit ihm ist das etwas anderes. Abgesehen davon habe ich Ferien und ich habe mir fest vorgenommen, diese zum Entspannen zu nutzen. 

Ich gebe Josh einen kurzen Kuss auf die Wange und seine Augen öffnen sich. Er schaut sich kurz verwirrt um, dann bleibt sein Blick an mir hängen und er lächelt. "Guten Morgen.", sagt er mit einer kratzigen Morgenstimme.

"Guten Morgen.", erwidere ich lächelnd. Wir liegen noch eine Weile im Bett, bis wir uns schließlich frisch machen und nach unten gehen, wo wir uns ein paar Brötchen zum Frühstück aufbacken. Joshs Vater ist den Tag über wohl unterwegs - wir haben also das Haus für uns. Die Aussicht, diesen Tag und auch die nächsten nur mit Josh zu verbringen, ohne irgendwelche Verpflichtungen zu haben, ist ziemlich gut.

Wir machen uns ein ziemlich leckeres Frühstück mit Brötchen, Gemüse, Obst, Nutella und Kaffee. Während wir essen, schmieden wir Pläne für das Wochenende. Josh schlägt vor, für einen Tag an den See zu fahren. Ich bin bei dem doch ziemlich grauen Wetter eher für einen Waldspaziergang und anschließend Filme schauen und ganz viel kuscheln. Wir einigen uns schließlich darauf, den Ausflug an den See unter Vorbehalt auf morgen zu verschieben, wenn das Wetter hoffentlich etwas besser ist.

Nach dem Frühstück machen wir uns daran, Ordnung zu schaffen und die Küche aufzuräumen. Josh erzählt mir gerade von irgendeinem Fußballspiel, das mich offen gestanden nicht besonders interessiert. Trotzdem höre ich ihm zuliebe zu und versuche wirklich zu verstehen, was dieses Spiel angeblich so besonders gemacht hat - als plötzlich ein ungutes Gefühl in mir aufsteigt.

Ich schlucke und halte mich mit den Händen an der Küchenzeile fest. Für einen Augenblick hoffe ich noch, dass ich mir die Aura nur einbilde - es kann doch nicht sein, es war gerade alles so perfekt - doch vergebens. Mir ist klar, dass sie real ist. "Josh...", murmele ich hilflos. Josh steht an der Spüle, das Wasser läuft und er ist völlig in seinen Monolog vertieft. Mir fehlt die Kraft, mich noch deutlich zu äußern, geschweige denn, mich selbst noch irgendwie in Sicherheit zu bringen. Denn kurz nachdem das unangenehme Kribbeln in meinem Körper mich handlungsunfähig gemacht hat, kippt die Welt vor meinen Augen und wird schließlich schwarz.

Joshs Perspektive

Erst der dumpfe Knall hinter mir lässt mich aufschrecken. Ich zucke zusammen und fahre herum, während ich die Teller in die Spüle fallen lasse und mit einer schnellen Handbewegung den Wasserhahn schließe. Ich reagiere viel zu spät - Malu liegt bereits verkrümmt am Boden und ihr Körper beginnt zu krampfen.

"Nein...", bringe ich hervor. Wie versteinert stehe ich da und starre auf sie. Alles, was sonst immer so klar schien, ist plötzlich wie weggeblasen. Kein einziger klarer Gedanke formt sich in meinem Kopf, da ist nur Leere. 

Ich dachte, dass ich mittlerweile wüsste, was in so einer Situation zu tun ist. Ich war schließlich oft genug dabei und habe immer einen mehr oder weniger kühlen Kopf bewahrt. Doch jetzt stehe ich hier und weiß plötzlich gar nichts mehr. Panik macht sich in mir breit, als ich beobachte, wie sich unter Malu Blut ausbreitet, von dem ich im ersten Moment nicht erkennen kann, woher es kommt. Sterne tanzen vor meinen Augen.

Du reißt dich jetzt zusammen, ermahne ich mich in Gedanken selber. Doch das bringt nicht wirklich etwas. Immer noch bin ich völlig ratlos und versteinert. Schließlich, als schon viel zu viel Zeit vergangen ist, mache ich das einzige, was mir in diesem Moment einfällt und einigermaßen logisch erscheint - Theo anrufen.

"Hey, Josh. Alles klar?", meldet er sich, nachdem es ein paar Mal in der Leitung gepiept hat. An dem Rauschen im Hintergrund höre ich, dass er im Auto sitzt und vermutlich die Freisprechanlage eingestellt hat.

"N-nein.", bringe ich stotternd hervor. Gar nichts ist klar, im Gegenteil.

Kurz ist es still. "Was ist los?", fragt er dann misstrauisch.

"Malu, sie...", setze ich an, doch kann nicht weitersprechen, als mein Blick wieder auf sie fällt.

"Hat sie einen Anfall?", fragt Theo alarmiert.

Ich nicke, auch wenn er das natürlich nicht sehen kann. "Ja.", sage ich dann atemlos. "Ich, ich kann gerade nicht... Ich bin..." Ich schüttele verzweifelt den Kopf.

"Josh.", sagt Theo eindringlich. "Ich war gerade auf dem Weg in die Stadt, aber ich fahre jetzt zu dir. In zehn Minuten bin ich da. Bleib ruhig."

"Okay.", sage ich, doch meine Hände zittern. Ich bin alles andere als ruhig.

"Sag mir genau, was los ist.", höre ich Theos Stimme. "Krampft sie noch? Wie lange schon?"

"Ich- ich weiß nicht.", stottere ich. "Sie blutet. Da ist ziemlich viel Blut."

Ich höre, wie das Rauschen im Hintergrund zunimmt - offenbar drückt Theo in diesem Moment aufs Gaspedal. "Okay. Aber der Anfall - wie sieht sie aus, Josh?"

Ich schaue gequält in Malus Gesicht. Ihre Augen sind verdreht und vor ihren Lippen hat sich Schaum gebildet. Ihre Haut ist weiß. "Nicht gut.", flüstere ich. Mir wird schlecht und ich habe das Gefühl, dass mein Magen sich umkrempeln möchte.

"Such nach ihrem Notfallmedikament und gib es ihr.", weist Theo mich an. "Ich wähle jetzt den Notruf. Ich bin sofort da." Mit diesen Worten legt er auf.

Ich lege mein Handy ab. Meine Hände sind nass und schwitzig und immer noch wie verrückt am Zittern. Nichts an mir scheint zu funktionieren - weder mein Körper, noch mein Verstand. Es ist, als hätte ich ein völliges Blackout. Ich stehe immer noch wie angewurzelt da, während sich in meinem Kopf langsam die Zahnrädchen in Bewegung setzen.

Was hat Theo gesagt? Ach ja - Notfallmedikament. Wo finde ich das? Wie sah das nochmal aus? Kann ich Malu hier so lange alleine lassen? Fragen über Fragen, auf die ich keine Antwort finde und die mich immer mehr in die Überforderung treiben. 

Schließlich fährt ein Ruck durch meinen Körper und ich sprinte die Treppe hoch, wo ich ihren Rucksack hektisch ausleere. Der Inhalt verteilt sich auf dem Boden, kreuz und quer im Raum verteilt. Ich lasse meinen Blick darüber streifen. Eine Menge Wäsche, ein Buch, ein Kabel, ein paar Zettel, ein Kugelschreiber. Aber nichts davon kann ich auf den ersten Blick als Notfallmedikament identifizieren.

In diesem Moment klingelt es an der Tür und ich renne wieder nach unten. Ich öffne die Tür und Theo stürmt herein. "Wo ist sie?"

"Küche.", sage ich nur. Theo stürmt dorthin und ich laufe ihm hinterher. Ich mache mir nicht die Mühe, die Tür zu schließen, denn hoffentlich ist der Rettungsdienst bald da. Theo hockt sich in der Küche neben Malu auf den Boden. Mein Atem geht wieder flacher, als ich sie sehe. Sie krampft immer noch und mittlerweile ist offensichtlich, dass das nicht mehr gesund ist.

"Hast du ihr Medikament gefunden?", fragt Theo angespannt.

Ich schüttele den Kopf. "Nein."

Theo erwidert nichts. Mit einigen routinierten Griffen trägt er dazu bei, dass Malus Körper in eine Position gelangt, die wohl irgendwie besser ist. Zumindest hört es sich nicht mehr so an, als könnte sie jeden Moment ersticken. Das trägt jedoch nicht dazu bei, dass sich die Anspannung in mir löst. Ich stehe ein paar Schritte entfernt und fühle mich völlig hilflos. Was habe ich nur getan?

controlWhere stories live. Discover now