fünfundvierzig

255 23 2
                                    

Max und ich vereinbaren direkt einen zweiten Termin für die nächste Woche. Ich bin mir zwar immer noch nicht ganz sicher, was genau mir das hier bringt und ob ich es wirklich nötig habe... Doch schaden wird es nicht und im Zweifel kann ich ja jederzeit aufhören.

Ich schreibe meiner Mutter eine kurze Nachricht, dass ich unterwegs bin, damit sie sich keine unnötigen Sorgen macht und laufe dann los. Ich bin froh darüber, dass ich zu Fuß nach Hause gehe. Das Stück ist wirklich nicht weit und so habe ich wenigstens die Möglichkeit, bis ich zu Hause bin nicht mehr ganz so verheult auszusehen und mir die letzten sechzig Minuten noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. 

Mit dem Wort Kontrollverlust hat Max den Nagel auf den Kopf getroffen. Genau das ist es, was mich belastet. Kontrollverlust auf allen Ebenen - nicht nur, was die Epilepsie betrifft, sondern irgendwie in meinem ganzen Leben. Die Schule, meine Zukunftspläne und nicht zuletzt Josh. Alles rinnt mir irgendwie aus den Fingern und ich habe absolut keine Macht darüber. Alles scheint in fremden Händen zu liegen und ich bin nur noch abhängig von anderen.

Plötzlich steigt ein anderes Gefühl als die Verzweiflung zuvor in mir auf: Wut. Wut über die Gesamtsituation, Wut auf die Medizin, Wut auf Josh. Das ist mein Leben, verdammt. Ich habe keine Lust, nur zu leiden und alles in die Hände anderer zu geben. Ich will leben wie ein ganz normaler Teenager, wenn man mal von den kleinen Einschränkungen, die meine Krankheit nun mal mit sich bringt, absieht.

Wie ferngesteuert gehe ich den Weg bis nach Hause. Die ganze Zeit bin ich völlig in meinen Gedanken versunken. Als Theo mir die Haustür öffnet, schaue ich ihn verwirrt und überrascht an. 

Er zieht spöttisch eine Augenbraue hoch. "Kleine Erinnerung: Ich wohne auch hier."

Ich lache verlegen, während ich meine Schuhe abstreife. "Sorry. War in Gedanken."

"Das hab ich gemerkt." Mein Bruder schüttelt den Kopf und geht dann ins Haus. Es riecht ziemlich gut nach Essen. Zum Glück erwarten meine Eltern oder Theo beim Abendessen nicht, dass ich irgendetwas sage oder erzähle, sondern reden über belanglose Themen, aus denen ich mich größtenteils raushalte. Ich bin irgendwie mental erschöpft. Kein Wunder, schließlich habe ich gerade eine Stunde lang über meine tiefsten Gedanken und Gefühle geredet. 

Nach dem Essen helfe ich kurz mit abräumen und verziehe mich dann in mein Zimmer, wo ich mich auf mein Bett fallen lasse. Ich bin so erschöpft, dass mir fast augenblicklich die Augen zu fallen. Ich werde nur noch einmal kurz wach, als Mama später leise meine Tür schließt.

***

Auf eine merkwürdige Weise haben sich meine Gedanken und Gefühle seit dem ersten Therapiegespräch wirklich verändert, obwohl Max mir überhaupt keine Anweisungen oder so gegeben hat. Doch nun ist nicht mehr Trauer und Verzweiflung mein vorrangiges Gefühl, sondern Wut, und das bleibt auch in den nächsten Tagen so. Gleichzeitig bin ich fest entschlossen, mir endlich das zurückzuholen, was mir die Epilepsie und der ganze Herzschmerz in der letzten Zeit genommen haben. 

Zum Glück kann ich meine Eltern recht einfach davon überzeugen, dass sie mich zum Geburtstag von Tim am Freitag gehen lassen. Sie denken ja immer noch, dass die letzte Party gut ausgegangen ist  - weder Theo noch ich haben ihnen von meinem Fauxpas erzählt. Den Fehler werde ich auch definitiv nicht noch einmal machen. Abgesehen davon ist vor allem meine Mutter momentan froh, dass ich überhaupt das Haus verlasse und unter Leute gehe.

Vor der Party haben Emma und ich uns verabredet. Zuhause stehe ich wieder etwas ratlos vor meinem Kleiderschrank, entscheide mich dann aber einfach für eine normale Jeans und ein Top. Für wen sollte ich mir besondere Mühe geben? Ich bin dort, um Spaß zu haben, nicht um irgendwen aufzureißen.

Als ich jedoch gegen zwanzig Uhr bei Emma klingele, schüttelt sie empört den Kopf. "Schön dass du da bist! Aber das kann unmöglich dein Outfit sein."

Ich streife seufzend meine Schuhe ab. "Naja, eigentlich schon. Ich wollte mich heute nicht besonders in Schale schmeißen." Ganz im Unterschied zu Emma, wie es aussieht - sie trägt einen eng anliegenden Rock und ein rückenfreies Top, was ihr echt verdammt gut steht.

Wir gehen hoch in Emmas Zimmer, wo ich es mir auf ihrem Sofa bequem mache. "Und wieso nicht, wenn ich fragen darf?", hakt Emma nach.

Ich zucke die Schultern. Gute Frage. Bei der letzten Party wollte ich mir irgendwie Mühe geben - wahrscheinlich auch, weil ich da noch daran interessiert war, Josh zu beeindrucken.

"Ist es wegen Josh?", fragt Emma seufzend, als ich keine Antwort gebe.

Widerwillig nicke ich. "Wahrscheinlich schon."

Emma lässt sich neben mich fallen und legt mir eine Hand auf die Schulter. Ihr Blick ist ernst. "Malu... Josh hat dich wie ein Arschloch dir gegenüber verhalten, so viel steht fest.", sagt sie. Mittlerweile habe ich ihr die ganze Geschichte etwas genauer erzählt. "Aber das heißt nicht, dass du an jetzt im Zölibat leben musst. Auch wenn du dir vielleicht gerade noch nicht so gut vorstellen kannst, mit jemand anderem was zu haben - ich finde, du solltest dir wenigstens die Chance geben, auch andere Typen gut finden zu können. Oder sie dich."

Ich ringe mir ein Lächeln ab. Irgendwie hat sie ja Recht. Nur, weil ich einmal verletzt wurde, heißt das nicht, dass jeder Typ so ein Arschloch ist. Außerdem muss ich ja nicht direkt in die nächste Beziehung starten, sondern könnte auch einfach mal belanglos meinen Spaß haben. Oder mich hübsch machen, ohne die Intention zu haben, irgendwelche Kerle zu beeindrucken.

"Gut.", sage ich schließlich. "Dann suchen wir mir mal ein Outfit raus."

controlWhere stories live. Discover now