sechsundvierzig

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Ich fühle mich ein bisschen wie ein anderer Mensch, als wir schließlich vor Tims Haustür stehen. Oder nein, nicht wie ein anderer Mensch - eher wie eine ziemlich gut aussehende Version von mir selbst. Emma hat mir ein dunkelblaues Kleid ausgeliehen, was mir, um ehrlich zu sein, normalerweise viel zu kurz wäre. Doch an irgendeinem Punkt des heutigen Abends habe ich beschlossen, einfach mal über meinen Schatten zu springen und eine andere Rolle einzunehmen. Machen das nicht alle irgendwie bei Partys?

Es ist schon ziemlich voll hier und Emma und ich laufen erst einmal etwas ratlos durch die Menschenmenge, auf der Suche nach irgendwelchen Leuten, die wir kennen. Emma hat sich für heute fest vorgenommen, bei Max endlich aus der friendzone rauszukommen.

Wir gehen, nachdem wir uns aus der Küche Getränke geholt haben, erst einmal zu zweit auf die Tanzfläche. Tanzen macht mir echt Spaß, sobald ich es schaffe, meine Unsicherheiten loszuwerden und nicht darüber nachzudenken, was andere von mir denken könnten. Aber die Musik hier ist echt gut und vor allem mit Emma, die sich überhaupt nicht um die Menschen um uns herum schert, macht es echt Spaß.

Plötzlich spüre ich von hinten eine Hand auf meiner Schulter, die mich leicht zurück zieht. Kurz verspanne ich mich, doch ziemlich schnell stelle ich fest, dass es sich um meinen Bruder handelt. "Theo. Was gibt's?", frage ich.

Er zieht leicht die Augenbrauen zusammen. "Das Kleid ist etwas kurz, meinst du nicht?" Kritisch mustert er mich von oben bis unten.

"Und das hast du zu entscheiden?", frage ich schnippisch. "Ich fühle mich eigentlich ganz wohl." Das entspricht zwar nicht hundertprozentig der Wahrheit, aber wenigstens habe ich die Länge des Kleides ziemlich gut ausgeblendet, während ich getanzt habe. Außerdem ist es allein meine Entscheidung, was ich anziehe - da hat mein Bruder wirklich nichts mitzureden.

Theo seufzt. "Papa hat mich beauftragt, auf dich zu achten. Und das beinhaltet für mich auch, dich vor komischen Typen zu beschützen."

Kurz brodelt wieder Wut in mir auf, auch wenn ich es mittlerweile natürlich gewohnt bin, dass ständig irgendwer auf mich "aufpassen" soll. Trotzdem nervt es mich, dass ich wie ein Kleinkind behandelt werde. "Ich bin alt genug.", sage ich trotzig. "Wenn ich mit komischen Typen was anfangen will, dann werde ich das tun."

Theo verdreht die Augen und beäugt dann kritisch meinen Becher. "Hast du Alkohol getrunken?"

"Entspann dich, da ist nur Cola drin.", sage ich genervt. Denselben Fehler wie beim letzten Mal werde ich nicht noch einmal machen.

"Na gut.", sagt mein Bruder schließlich widerwillig. "Ich suche mal die anderen. Du kannst dich ja mal regelmäßig bei mir melden."

Ich nicke und drehe mich wieder um. Doch Emma ist von der Tanzfläche verschwunden. Ich laufe kurz durch die Menschenmenge, kann sie aber nicht mehr finden. Naja, vielleicht bedeutet das etwas Gutes und mit Max hat sich eine Gelegenheit ergeben. Oder sie hat irgendwen anderes getroffen.

Etwas ziellos laufe ich durchs Haus. Außer mit Emma und mit Theos Jungs habe ich mit niemandem hier wirklich etwas zu tun. Ich bin erleichtert, als mir auf dem Weg nach draußen Jonathan begegnet.

"Hey!" Er umarmt mich kurz. "Schön, dass du auch hier bist."

"Schön dich zu sehen.", sage ich. Wir gehen gemeinsam auf die Terrasse, wo es etwas ruhiger ist als im Haus und man sich besser unterhalten kann. Erst jetzt wird mir bewusst, wie lange Jonathan und ich nicht miteinander gesprochen haben, einfach weil es keine Gelegenheit dazu gab.

Jonathan nickt und schaut mich nachdenklich an. "Finde ich auch. Wir haben uns echt kaum gesehen in der letzten Zeit."

Ich weiche seinem Blick aus. "Tja... Aus naheliegenden Gründen." Der naheliegende Grund ist Josh. Ich kann einfach unmöglich die Pausen mit den Jungs verbringen, wenn Josh auch dabei ist. Mittlerweile haben wir seit Wochen kein Wort gewechselt.

Jonathan seufzt. "Ja. Tut mir Leid, wie das alles gelaufen ist."

Ich nicke nur und weiß nicht so richtig, was ich darauf erwidern soll. "War echt alles nicht leicht.", sage ich schließlich kurz angebunden. Eigentlich würde ich das Thema lieber meiden. Trotzdem ist Josh natürlich der Elefant im Raum und so zu tun, als wäre er das nicht, würde sich auch nicht richtig anfühlen.

Jonathan fährt sich durch die Haare. "Ich weiß nicht, ob dir das hilft, aber... war es für Josh auch nicht. Ich glaube, er leidet auch ganz schön."

Gedankenverloren schweift mein Blick durch den Garten - bis er an Josh hängen bleibt. Ich erstarre. Nur ein paar Meter von uns entfernt sitzt Josh auf einem Stuhl. Wie konnte der mir bisher nicht auffallen? Ich bezweifle jedoch, dass er von unserem Gespräch etwas mitbekommen hat. In seiner Hand hält er einen Becher, der leicht überschwappt. Er scheint ziemlich betrunken zu sein. Das ist jedoch nicht das, was mich so erstarren lässt. Es ist das Mädchen auf Joshs Schoß. Seine Hand liegt an ihrem Rücken und seine Lippen sind auf ihre gepresst.

"Sieht mir gerade nicht danach aus.", bringe ich mit zitternder Stimme hervor. Jonathans Blick folgt meinem. Er macht ein halb genervtes, halb wütendes Geräusch, als er Josh sieht. "Verdammt.", bringt er hervor. Jetzt scheint Jonathan nicht zu wissen, was er sagen soll. "Fuck."

Ich reiße meinen Blick von den beiden los, ich kann mir das nicht länger mit ansehen. Josh scheint definitiv schneller über mich hinweg gekommen zu sein als ich über ihn. Vielleicht war die Trennung für ihn auch ein Befreiungsschlag - jetzt kann er endlich wieder das Leben führen, das er vorher hatte: jedes Wochenende mit einer anderen Frau rummachen und vielleicht endlich die 50 voll bekommen.

controlWhere stories live. Discover now