vierunddreißig

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Am Abend lerne ich Joshs Vater kennen. Josh hat mich und wohl auch seinen Dad darauf vorbereitet und auch mir war zuvor schon klar gewesen, dass dieser Moment bald kommen würde. Ich bin dieser Situation nicht mit Absicht aus dem Weg gegangen, doch es hat sich bisher einfach noch nicht ergeben. Manchmal fühlt es sich so an, als würde Josh alleine wohnen, da sein Vater so selten zu Hause ist. Doch an diesem Tag ist es so weit. Ich bin nervös, als wir schließlich die Treppe herunter gehen, nachdem Joshs Vater nach Hause gekommen ist.

Wir treten in die Essküche, wo neben dem Tisch ein großer, schlanker Mann steht, der den Blick aus dem Fenster gerichtet hat. Er trägt ein weißes Hemd und eine Anzughose, hat grau melierte Haare und ein freundliches Gesicht. Als er sich zu uns umdreht, breitet sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. In seinem Gesicht ist die Ähnlichkeit zu seinem Sohn unverkennbar. Das Lächeln ist genau das gleiche, genau wie die funkelnden Augen und die hohe Stirn. "Du musst Malu sein.", sagt er und kommt mit ausgestreckter Hand auf mich zu.

Ich schüttele seine Hand. "Ja, die bin ich. Freut mich sehr, Sie kennen zu lernen."

"Mich auch. Aber bitte, nenn mich doch Stefan.", stellt er sich vor. Ich nicke. Er ist mir auf Anhieb sympathisch - wahrscheinlich liegt es an seiner aufgeschlossenen Art und daran, dass er ziemlich viel von seinem Sohn an sich hat.

Stefan wendet sich Josh zu. "Habt ihr schon Pläne für das Abendessen?"

Josh schüttelt den Kopf. "Nein, bisher nicht."

"Sehr gut. Ich dachte, wir könnten vielleicht was essen gehen.", sagt er und blickt mich an. "Zur Feier des Tages."

***

Wir entscheiden uns für eine echt gemütliche Pizzeria in der Nähe und verbringen einen wirklich schönen Abend zusammen. Meine Bedenken, die ich vor dem Kennenlernen mit Joshs Vater hatte, lösen sich im Laufe des Abends in Luft auf. Ich kannte ihn durch Theo zwar schon zuvor vom Sehen, aber richtig kennen gelernt haben wir uns noch nicht. Doch die Gespräche zwischen uns sind von Anfang an locker und entspannt. 

"Also Malu, hast du denn schon Zukunftspläne?", fragt er mich, nachdem wir mit unseren Getränken angestoßen haben.

Ich schüttele den Kopf. "Nicht wirklich. Ich würde gerne studieren, aber weiß echt noch nicht, was. Aber ich habe ja auch noch ein bisschen Zeit." 

"Du machst ein Jahr nach Josh dein Abitur, oder?", erkundigt sich Stefan.

Ich nicke. "Genau."

"Na, dann hast du ja wirklich noch Zeit. Noch nicht einmal Josh hat schon Pläne, wie es weitergehen soll.", sagt Stefan mit einem Blick auf seinen Sohn.

Josh grinst verlegen und nippt an seinem Getränk. "Irgendetwas werde ich schon finden.", sagt er ausweichend.

Ich spüre, dass das wohl normalerweise ein Thema zwischen den beiden ist und nehme mir vor, Josh bei Gelegenheit nochmal darauf anzusprechen. Zum Glück machen wir jedoch kein Fass auf und wechseln schnell das Thema, sodass die Stimmung nicht unangenehm wird.

Nach einer Weile kommen unsere Pizzen - sie schmecken göttlich. Ich war zuvor noch nie in dieser Pizzeria, aber sie ist wirklich gut.

Ich habe an diesem Tag das Gefühl, zum ersten Mal seit langem wieder richtig durchatmen zu können. Endlich bin ich mal nicht den kontrollierten und besorgten Blicken meiner Familie ausgesetzt, deren Anspannung sich ständig auf mich überträgt. Josh und sein Vater begegnen mir mit viel weniger Vorbehalten, als es für meine Familie offenbar möglich ist. Meine Krankheit scheint endlich einmal kein Thema zu sein. 

Mir ist klar, dass Josh seinem Vater wahrscheinlich von meiner Epilepsie erzählt haben wird - das ganze spielt schließlich leider eine ziemlich große Rolle in meinem Leben und abgesehen davon könnte ich theoretisch immer einen Anfall bekommen. Doch zum Glück spricht er mich mit keinem Wort darauf an, sodass es sich zumindest einmal so anfühlt, als wäre die Krankheit nicht ein Teil von mir.

Nach dem Essen fahren wir wieder nach Hause, wo Josh und ich uns in sein Zimmer verziehen. "Ich mag deinen Vater.", sage ich, während Josh es sich auf dem Sofa bequem macht. Ich setze mich neben ihn. 

Josh lächelt. "Das erleichtert mich." Er legt einen Arm um mich und streicht sanft über meine Schulter.

"Ihr habt ein ziemlich gutes Verhältnis, oder?", frage ich.

Josh nickt. "Ja, würde ich auch sagen. Für Vater und Sohn sind wir ziemlich eng." Er macht eine kurze Pause. "Es ist ein bisschen traurig, aber... der Tod von meiner Mutter hat uns merkwürdigerweise zusammen geschweißt."

Ich weiß nicht genau, was ich dazu sagen soll. Das ist wirklich ein bisschen traurig. Warum kommen Menschen immer erst dann zusammen, wenn jemand stirbt? Als würde man erst durch den Schmerz verstehen können, wie viel einem aneinander liegt.

Statt einer Antwort schlinge ich meine Arme um ihn und drücke Josh fest. Irgendwie will ich ihm in diesem Moment zeigen, wie wichtig er mir ist. So wichtig, dass ich mir nicht vorstellen kann, noch einmal ohne ihn zu sein.

"Ich liebe dich.", sage ich zum zweiten Mal an diesem Tag. Mit dem Unterschied, dass ich diesmal diejenige bin, die die Worte zuerst ausspricht. Das hat irgendwie so viel mehr Gewicht, als nur darauf zu antworten. 

Joshs Hände umfassen mein Gesicht und er schaut mich an. Er sieht glücklich aus. "Ich dich auch.", sagt er leise, bevor er mich liebevoll küsst. Keinen Moment zweifle ich an diesen Worten, so ehrlich und wahr klingen sie.

controlWhere stories live. Discover now