siebenunddreißig

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Theos Perspektive

Meine Gedanken schwirren in meinem Kopf umher, ohne irgendwie zur Ruhe zu kommen. Ich versuche, mich aufs Autofahren zu konzentrieren, doch so richtig will es mir nicht gelingen. Zum Glück ist der Weg bis zum Krankenhaus nicht weit und die Straßen sind relativ ruhig. 

Unterwegs rufe ich meine Mutter an und schalte die Freisprechanlage ein. "Hallo?", meldet sie sich.

"Hi, Mama.", sage ich gepresst. "Es geht um Malu."

Ich kann förmlich hören, wie bei meiner Mutter die Stimmung kippt und in Anspannung umschlägt. "Ein Anfall?", fragt sie hektisch.

"Ja.", bestätige ich seufzend. "Sie war bei Josh. Sie wird gerade ins Krankenhaus gebracht."

"Ich mache mich sofort auf den Weg.", höre ich meine Mutter. Offenbar hat sie mich auf Lautsprecher geschaltet, denn ihre Stimme klingt weiter entfernt als zuvor. "Wo bist du gerade?"

"Ich war vorhin bei Josh. Jetzt bin ich auf dem Weg ins Krankenhaus.", sage ich.

"Okay. Und Josh?", fragt sie.

Ich zögere einen Moment. Ich weiß selbst nicht genau, was mit ihm ist. "Der stand ein bisschen unter Schock.", sage ich schließlich. "Er räumt erst einmal zu Hause auf und kommt später." So gebe ich Josh die Chance, vielleicht doch noch zu Sinnen zu kommen und nicht alles direkt hinzuwerfen.

"Gut.", sagt Mama. "Wie geht es Malu? Wie sieht es aus?"

"Ihre Werte waren vorhin nicht so gut.", sage ich vage, um meine Mutter nicht allzu sehr in Panik zu versetzen. "Sie wird jetzt erst einmal versorgt und dann schaut man weiter."

"Okay, danke für deinen Anruf. Wir sehen uns gleich." Mit diesen Worten legt sie auf.

Malu hat es schon so oft geschafft. Sie hat schon so viele Anfälle gesund überstanden, auch wenn es zunächst nicht danach aussah. Wieso sollte es dieses Mal anders sein? Trotzdem habe ich Angst um sie. Es war wieder ein Anfall, der eigentlich viel zu lange gedauert hat. Jedes Mal könnte es der Kipppunkt sein - der Punkt, an dem der Sauerstoff nicht mehr gereicht hat und sie, wenn sie wieder aufwacht, irgendwelche Schäden davonträgt. Falls sie wieder aufwacht. Es kommt vor, dass Menschen an ihren Anfällen sterben. Dass das Herz einfach irgendwann stehen bleibt. Und auch wenn ich versuche, diese Angst nicht zu nah an mich heranzulassen, ist sie immer irgendwie da.

Erst, als das Auto hinter mir hupt, bemerke ich, dass die Ampel grün ist. Ich drücke wieder aufs Gaspedal. 

Und was zur Hölle ist nur mit Josh los? Ich kann mir sein Verhalten nicht anders erklären, als dass er völlig unter Schock steht und nicht mehr in der Lage war, klar und vernünftig zu denken. Was er gesagt hat, klang nicht nach ihm selbst - vor einigen Monaten vielleicht, aber der Josh, der er jetzt ist, würde niemals so etwas über Malu sagen. Er vergöttert sie. Er liebt sie - zumindest dachte ich das. Und ich hatte auch immer den Eindruck, dass er mit ihren Anfällen einigermaßen gut umgehen konnte. Normalerweise war er im Gegensatz zu mir immer der, der einen kühlen Kopf bewahrt hat.

Vermutlich macht er sich Vorwürfe, weil das diesmal nicht so war. Aber niemand außer ihm selbst könnte und würde ihm das vorwerfen, noch nicht einmal Malu. Immerhin war er genug bei Sinnen, um mich anzurufen. Er hätte noch viel schlimmer handeln können. So ein Schockzustand sollte vielleicht nicht, kann aber passieren. Ich hoffe, dass er in einigen Minuten wieder klar denken kann und sich verdammt nochmal auf den Weg macht.

Auch, wenn ich es vor ihnen nicht zugeben würde, war ich auch ein bisschen froh darüber, dass Malu und Josh zueinander gefunden haben. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich gegenseitig gut tun. Josh war ein bisschen geerdeter, vernünftiger. Und Malu war einfach glücklich. Es würde sie kaputt machen, wenn Josh jetzt einfach aus ihrem Leben verschwinden würde. Er würde ihr das Herz brechen, da bin ich mir sicher

Ich parke mein Auto auf dem großen Parkplatz des Krankenhauses und ziehe mein Handy hervor, dann öffne ich den Chat mit Josh und tippe eine Nachricht.

Ich bin jetzt am Krankenhaus. Nimm dir ruhig Zeit, aber bitte komm her! Es ist noch nicht zu spät, ich habe niemandem etwas gesagt. 

Ich schicke die Nachricht ab, springe aus dem Auto und gehe mit eiligen Schritten auf den Haupteingang des Krankenhauses zu. In meiner Hosentasche vibriert es und ich fische wieder mein Handy heraus. Josh hat direkt geantwortet. Als ich seine Nachricht lese, bleibe ich kurz stehen.

Ich kann nicht., steht da. Mehr nicht. Das ist alles. Das ist alles, was er zu sagen hat. Das ist seine Art, die Beziehung zu beenden. 

Wut steigt in mir auf. Wut auf diesen verdammten Feigling, der sich meinen besten Freund nennt - oder nannte? Gleichzeitig habe ich Angst vor dem Moment, in dem ich meiner Schwester die Botschaft überbringen muss, dass ihr Freund nicht kommen wird. Gar nicht mehr. Weil er mit ihr überfordert ist.

Es ist genau das, was Malu immer gefürchtet hat, und worunter sie am meisten leidet: dass sie andere Menschen belastet und dass sie deshalb eines Tages Menschen verliert. Genau das tritt jetzt ein. Und es wird sie kaputt machen, so viel steht fest. Josh macht sie gerade kaputt.

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