sechsunddreißig

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Unter Malus Kopf bildet sich eine immer größer werdende Blutlache, während sich in meinem Kopf ein immer dichter werdender Nebel bildet, der mich weiter daran hindert, irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Stattdessen fühle ich mich, als könnte ich selber jeden Moment umkippen. Als ich höre, wie der Rettungswagen und ein Notarzt vor dem Haus halten, eile ich zur Haustür.

Ich bin nicht mehr in der Lage, irgendein Wort über die Lippen zu bringen. Stattdessen deute ich stumm in Richtung Küche, und folge dann dem Notarzt dorthin. 

"Notfallmedikament, wir brauchen dringend ein Notfallmedikament!" Theos Stimme überschlägt sich beinahe. Auch wenn er vorher die Ruhe bewahrt hat, kann er seine Anspannung jetzt nicht mehr verbergen.

Ein paar Handgriffe später bekommt Malu ein Medikament in den Mund, das den Anfall stoppen soll. Dann heißt es warten.

"Wie lange dauert der Anfall schon?", fragt der Notarzt, während wir alle wie gebannt auf Malu starren. Sie zuckt zwar noch, doch die Intervalle scheinen immer länger zu werden.

Theo schaut mich an, doch ich schüttele ratlos den Kopf. Ich habe mein Zeitgefühl völlig verloren. "Keine Ahnung, so... fünf bis zehn Minuten, würde ich sagen."

Der Arzt nickt wortlos. Als Malu endlich aufgehört hat zu krampfen, kehrt ganz langsam etwas Farbe in ihr Gesicht zurück - trotzdem sieht sie immer noch blass aus. Ihre Augen, die zuvor verdreht waren, sind jetzt geschlossen. Ihr Atem geht langsam und rasselnd. 

Der Notarzt legt sie auf die Seite, was ihr Atemgeräusch ein wenig verbessert. Theo ist ebenfalls ein paar Schritte zurück gegangen, um den beiden Sanitätern Platz zu machen. Einer von ihnen entfernt mit einem Tuch den Speichel und das Blut, das sich in Malus Gesicht gesammelt hat. Jetzt ist auch erkennbar, woher es kommt: offenbar hat sie sich durch den Sturz das Kinn aufgeschlagen. Beim Anblick der Wunde wird mir sofort wieder schlecht. Ich halte mich mit der Hand am Küchentisch fest.

"Malu?" Der Notarzt rüttelt entschieden ihren Körper. "Kannst du mich hören?" Es kommt keine Reaktion. Ein Sanitäter ist dabei, ihre Vitalwerte zu messen. "Blutsauerstoff bei 78 Prozent.", sagt er deutlich. "Puls bei 40, ebenfalls viel zu niedrig und unregelmäßig."

Ich werfe einen Blick auf Theo, doch kann keine Regung von ihm entnehmen. Er steht mit verschränkten Armen neben mir und starrt eisern auf das Geschehen. 

Einer der Sanitäter versucht, die Blutung in ihrem Gesicht zu stoppen, doch immer mehr Blut scheint herauszuströmen. Es nimmt einfach kein Ende. Einer der Sanitäter hat kurz das Haus verlassen und kommt wenig später mit einer Trage wieder. Malu hat immer noch keine Regung gezeigt. Wenn man nicht das unregelmäßige, rasselnde Geräusch ihres Atems hören würde, könnte man sie für tot halten.

Der Notarzt wendet sich an Theo und mich. "Sie muss sofort in die Notaufnahme.", sagt er in einem ernsten Tonfall, der es mir eiskalt den Rücken herunter laufen lässt. Mechanisch nickt Theo, während ich wie erstarrt bin. "Sie hat viel Blut verloren.", fährt er fort. "Ihre Vitalwerte sind nicht gut."

"Aber wird sie...", setzt Theo an, ohne den Satz zu Ende zu bringen -  doch alle Beteiligten wissen, was er sich nicht traut auszusprechen. Wird sie es schaffen? Wird sie bleibende Schäden davontragen?

Der Notarzt räuspert sich, hält Theos Blick jedoch stand. "Sie muss jetzt erst einmal versorgt werden, danach können wir mehr sagen."

Danach können wir mehr sagen... das ist nicht das, was ich gerne hören wollte. Ich wische mir mit der Hand über die Stirn. Sie ist schweißnass.

Die Sanitäter wirken nicht hektisch, doch man sieht ihnen an, dass sie die Lage ernst nehmen und Malu so schnell wie möglich ins Krankenhaus muss. Nachdem sie sie auf der Trage platziert und eine Infusion angeschlossen haben, verabschieden sie sich knapp und gehen zurück zum Krankenwagen.

Ich habe versagt. Diese Worte hallen immer und immer wieder mit eiskalter Brutalität durch meinen Kopf. Ich hätte es so viel besser machen müssen. Ich stand direkt neben ihr und habe trotzdem zugelassen, dass das so ausgeht.

Malus Eltern haben mir vertraut. Sie hat mir vertraut. Und ich tue einfach nichts, außer selber in Panik zu geraten.

Als wir alleine sind, wendet Theo sich mir zu. "Ich fahre jetzt ins Krankenhaus. Fährst du bei mir mit?" 

Ich starre ihn an, dann schüttele ich langsam den Kopf. "Nein.", bringe ich hervor.

Er mustert mich kritisch und zieht die Augenbrauen zusammen. "Du kannst in dem Zustand nicht fahren."

"Ich meine, ich komme gar nicht mit.", sage ich. Meine Stimme zittert, doch ich bin entschieden in dem, was ich sage.

"Wie meinst du das?", fragt Theo nach einer kurzen Stille. Sein Blick ruht auf mir. Ein Ausdruck, den ich nicht ganz zuordnen kann, liegt darin. Besorgnis? Misstrauen? Enttäuschung? Vermutlich letzteres. Ich weiß genau, dass ich bereits vorhin versagt habe und auch jetzt das falsche tue. Doch das erscheint mir vernünftiger, als weiter zuzulassen, dass ich Malu schade. Sie hat etwas besseres verdient.

"Ich kann das nicht.", sage ich kehlig. "Ich kann dem - oder besser gesagt ihr - nicht gerecht werden."

"Josh!" Theo packt mich an den Schultern und schüttelt mich leicht, als wolle er mich auf den Boden der Tatsachen zurück holen. "Du stehst unter Schock. Beruhige dich erst einmal und denk dann nochmal drüber nach, was du sagst."

Ich schlucke. Theo wird mich nicht verstehen. Er wird mich nicht verstehen, wenn ich es so erkläre. Ich muss andere Worte wählen. "Ich kann mit ihr nicht umgehen, okay?", bringe ich mit lauter Stimme hervor. "Ich kann nicht mehr mit ihr zusammen sein. Sie ist krank. Sie überfordert mich. Sie bringt mich mehr zum Leiden als alles andere." Die Worte tun mir selbst körperlich weh, als ich sie ausspreche. Selbst in meinen Ohren klingen sie schrecklich und brutal und am liebsten würde ich, angeekelt von mir selbst, das Gesicht verziehen. 

Theo löst sich schlagartig von mir und weicht ein paar Schritte zurück. In seinem Blick liegt jetzt eindeutig Schmerz und Enttäuschung. "Ich hätte gedacht, du..." Er bricht ab und schüttelt resigniert den Kopf. "Egal. Wir reden wann anders. Ich werde jetzt fahren." Mit diesen Worten verlässt er das Haus, ohne mich noch einmal anzusehen.

Ich lasse mich endlich auf den Küchenboden sinken. Neben mir irgendein Verpackungsmüll und Handtücher voller Blut.

Ich bin ein Versager.

controlWhere stories live. Discover now