sechs

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„Euren Vater habe ich gerade benachrichtigt. Er ist im OP fertig und sollte jeden Moment hier sein.", sagt Frau Liebermann jetzt. Wie aufs Wort öffnet sich die Tür und Papa betritt den Raum. Er sieht etwas zerzaust und durch den Wind aus. Ich sehe ihn so selten in seiner Krankenhauskleidung, dass es immer wieder ungewohnt für mich ist.

„Hallo, ihr Beiden.", sagt er und läuft eilig auf uns zu. Er mustert mich. „Ach, Malu. Wie geht es dir? Tut dir was weh?"

Ich zucke mit den Schultern. „Müde. Und Kopfschmerzen und Muskelschmerzen, aber es wird besser."

Papa legt seine Hand auf meinen Kopf und streicht mir liebevoll durch die Haare. „So ein Mist."

Dann wendet er sich an die Ärztin und Theo. „Was ist denn genau passiert?"

„Sie hatte in der Schule einen Grand-mal-Anfall. Glücklicherweise ist sie nicht gestürzt, sondern konnte rechtzeitig aufgefangen werden, sodass zumindest keine schwerwiegenden Verletzungen vorhanden sind. Der Anfall hat wohl jedoch recht lange gedauert.", erklärt die Ärztin.

„Ungewöhnlich lange?", fragt Papa Theo.

Der zuckt mit den Schultern. „Ich war nicht von Anfang an da, aber ich glaube, schon länger als sonst. Sie wurde schon blau."

Papa atmet tief durch. „Hattest du Vorgefühle oder eine Aura?", fragt er mich dann.

„Beides.", antworte ich. Mein Vater steckt völlig in seiner Rolle als Arzt fest, doch ich glaube, dass das einfach seine Art ist, mit seiner väterlichen Sorge umzugehen. Mama und Theo nimmt das ganze immer mehr mit als ihn. Doch Papa kann seine Gefühle eben nicht so gut zeigen wie die anderen – oder er zeigt sie eben auf eine andere Art.

„Okay." Er nickt. „Jeanette, was schlägst du vor, wie es weitergehen soll?"

Frau Liebermann – oder Jeanette, wie sie offenbar heißt – rollt mit ihrem Stuhl etwas näher an uns heran. „Die Wunden müssen noch versorgt werden, sie sind allerdings nur oberflächlich. Normalerweise würden wir dich, Malu, jetzt eine Nacht hierbehalten. Allerdings gehe ich unter diesen Umständen davon aus, dass du auch zu Hause bestens medizinisch versorgt bist."

Ich nicke. „Ja, bin ich. Ich würde lieber nach Hause."

„Kann ich gut verstehen.", sagt Frau Liebermann und lächelt. „Was die Medikation angeht..." Sie seufzt. „Na ja. Versuchsweise könnte man das Valproat noch etwas höher setzen. Das hätte allerdings auch weitere Nebenwirkungen zur Folge. Außerdem können wir noch hoffen, dass dieser Anfall eine kleine Ausnahme war."

„Nicht noch mehr Medikamente.", sage ich. Ich bin schon mit den Medikamenten, die ich momentan nehme, an meinem Limit. Ich habe keine Lust, mich schon wieder umstellen zu müssen. „Außerdem hat es ja auch acht Monate lang gut funktioniert."

Theo schaut mich stirnrunzelnd an. „Sicher? Wenn du mehr davon nehmen würdest, hätten wir ein bisschen mehr Sicherheit."

Ich schüttele entschieden den Kopf. „Nein, ich will es erst einmal so lassen."

Auch Papa sieht mich etwas kritisch an, zuckt dann aber mit den Schultern. „Na gut. Das ist deine Entscheidung."

***

Wir entscheiden, dass es für alle am besten ist, wenn ich wieder mit nach Hause fahre. Es bringt nichts, wenn ich eine Nacht hier bleibe. Nachdem die paar Wunden versorgt sind, die Medikamente in mich hineingeflossen sind und Papa sich wieder in den OP verabschiedet hat, verlasse ich schließlich mit Theo das Krankenhaus. Ich bin zwar immer noch müde, aber wenigstens wieder bei Sinnen. Trotzdem freue ich mich sehr auf das Bett, das mich zu Hause erwartet.

Auf der Rückfahrt ist es lange still. „Danke.", sage ich irgendwann. „Und sorry."

Theo runzelt die Stirn und schüttelt leicht den Kopf. „Hör auf. Du musst dich weder bedanken noch entschuldigen."

Objektiv gesehen weiß ich, dass er Recht hat. Trotzdem fühle ich mich ihm gegenüber mies. Er leidet schließlich auch unter dem Ganzen, fühlt sich mir gegenüber verantwortlich und muss die Schule ausfallen lassen, obwohl er mitten in seinem Abitur steckt.

Den Rest des Tages verbringe ich hauptsächlich im Bett und schlafe einige Stunden lang. Erst zum Abendessen gehe ich nach unten. Meine Familie sitzt bereits in der Küche und es riecht ziemlich gut nach Essen.

„Malu.", sagt Mama und steht von ihrem Platz auf. „Wie geht es dir?"

Ich lasse mich auf meinen Stuhl fallen. „Ganz gut. Erschöpft, aber besser."

Mama füllt meinen Teller mit Essen – Gemüselasagne, eines meiner Lieblingsgerichte. Erst jetzt bemerke ich, was für einen Hunger ich habe. Seit dem Frühstück in der Pause kam nichts mehr dazu. Ich schlinge ein paar große Bissen in mich hinein, bis das Loch in meinem Magen einigermaßen gefüllt ist.

Meine Familie erwartet zum Glück nicht, dass ich mich am Gespräch beteilige und redet über andere Dinge. In diesem Moment bin ich dankbar dafür, dass das Thema kurz totgeschwiegen und so getan wird, als wäre alles normal.

Nach dem Essen setzen Theo und ich uns aufs Sofa und schauen irgendeinen Film, von dem ich ehrlicherweise wenig mitbekomme. Immer wieder döse ich weg und allgemein kann ich mich kaum konzentrieren.

„Wie geht es dir wirklich?", fragt Theo irgendwann. Offenbar ist auch er in Gedanken nicht ganz beim Film.

„Ein bisschen müde, aber die Kopfschmerzen sind besser.", gebe ich meine Standard-Antwort. Dann ist es kurz still – wir beide wissen, dass Theo auf etwas anderes hinaus wollte. „Nicht so gut.", sage ich schließlich. „Es ist frustrierend. Ich habe irgendwie gehofft, dass ich es erst einmal hinter mir hätte."

Theo nickt langsam. „Versteh ich." Er versteht das alles aus seiner Perspektive. Vielleicht ist es die, die meiner am nächsten kommt.

controlWhere stories live. Discover now