vierundvierzig

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Am nächsten Dienstag nach der Schule habe ich den Termin bei dem Psychotherapeuten, den Mama für mich ausgemacht hat. Mama fährt mich hin, doch auf der kurzen Fahrt schweigen wir uns hauptsächlich an. Ich bin nicht wirklich in der Stimmung, mich zu unterhalten, sondern viel zu sehr in meinen eigenen Gedanken versunken. Ich weiß nicht, ob ich mich auf den Termin freuen soll oder Angst haben sollte. Irgendwie ist es eine Mischung aus beidem. 

Einerseits stelle ich es mir sehr, sehr seltsam vor, mit einem fremden Menschen über mein Privatleben und meine Gefühle zu sprechen. Ich verstehe auch nicht wirklich, was genau es bringen soll, denn so richtig etwas an der Situation ändern kann ja auch niemand. Andererseits ist es eine Gelegenheit, mal jemanden zum Reden zu haben, der überhaupt nicht irgendwie in mein Leben involviert ist. Was meine Anfälle angeht, leiden alle, die mir nahestehen, mit mir, was es nicht immer unbedingt leichter macht. Und über Josh kann ich zum aktuellen Zeitpunkt mit niemandem so wirklich reden, weil ihn eben alle kennen. Die einzige, die in Frage käme, wäre Emma, aber dafür ist unsere Freundschaft noch nicht tief genug und ich noch zu gehemmt vor ihr.

"Da sind wir.", sagt Mama schließlich. Erst jetzt bemerke ich, dass sie das Auto zum Stehen gebracht hat. Ich schaue auf. Wir stehen vor einem schönen Haus in einer Wohnsiedlung, das wirklich einfach nur normal aussieht. Lediglich das Schild an dem Tor weist darauf hin, dass es sich hier bei um eine psychotherapeutische Praxis handelt. Maximilian Wedding - Kinder- und Jugendpsychotherapeut.

"Soll ich noch mit reinkommen?", fragt Mama. Sie scheint meine Nervosität zu bemerken.

Ich schüttele den Kopf. "Nein, das schaff ich schon alleine."

"Okay." Mama schenkt mir ein ermutigendes Lächeln. "Ich hol dich nachher hier wieder ab."

Ich zögere kurz. "Ich glaube, ich würde lieber zu Fuß gehen. Es ist ja nicht weit."

"Alleine?", hakt Mama nach. Ich sehe ihr an, dass sie mit sich hadert. Sie hat es überhaupt nicht gern, wenn ich alleine irgendwohin gehe. Doch ich nicke und sie lächelt schließlich. "Okay. Wenn doch etwas ist, ruf mich einfach an. Bis später."

"Bis später.", erwidere ich und steige aus dem Auto aus, bevor ich es mir noch einmal anders überlegen kann. Mein Herz ist ganz schön am Rasen, als ich schließlich an der Tür klingele. Mit einem leisen Summen öffnet sich schließlich die Haustür. Ein nicht zu übersehendes Schild deutet auf den Eingang der Praxis hinter einer kleinen Treppe hin. 

Ich finde mich in einem kleinen Vorraum wieder. Bitte warten. Unter dieser Aufschrift stehen mehrere Stühle. Na gut, dann warte ich eben. Ist ja eigentlich wie beim Arzt. Die Tür zum nächsten Zimmer ist geschlossen. Man hört, dass jemand redet, doch kann nicht verstehen, was gesagt wird.

Nervös knibbele ich an meinen Fingernägeln herum. Die Wartezeit ist das schlimmste. Ich hätte ein paar Minuten später kommen sollen. Doch schließlich geht die Tür des Raums von innen auf. Ein Mädchen geht, ohne aufzublicken, an mir vorbei. Ich schätze sie ein bis zwei Jahre jünger als ich. Sie hält den Kopf gesenkt und schlägt schließlich geräuschvoll die Tür zu. 

Mit einem Mal fühle ich mich schrecklich fehl am Platz. Was soll ich hier, bei einem Psychotherapeuten? So krank bin ich doch auch nicht, oder? Hätte nicht eine einfache Beratung gereicht? Hat nicht jeder Mensch mal schwierige Phasen?

Andererseits - wenn man so sehr davon überzeugt ist, keine Hilfe zu brauchen, braucht man sie dann nicht irgendwie auch am meisten?

Meine Gedanken werden davon unterbrochen, dass ein Mann aus dem Raum tritt. Ich mustere ihn kurz. Er sieht jung aus, vielleicht etwa Mitte dreißig. Die blonden Haare sind kurz geschnitten, er trägt ein helles Hemd und eine Jeans. Sein Gesicht sieht freundlich aus und er lächelt leicht. "Hallo. Du musst Malu sein."

Ich stehe auf und schüttele kurz seine ausgestreckte Hand. "Äh, ja, die bin ich."

"Freut mich. Du kannst mich gerne Max nennen. Komm doch rein." Er macht eine einladende Geste und ich betrete den Raum. Hier sieht es viel gemütlicher aus als im Wartezimmer. Das Zimmer ist voll mit Pflanzen, doch durch die großen Fenster ist es trotzdem hell. Mehrere Sessel und ein Sofa wurden gemütlich arrangiert.

"Such dir gerne einen Platz aus, ich bin sofort bei dir.", sagt Max. Ich entscheide mich für einen Sessel mit dunkelrotem Samtbezug, der unfassbar bequem ist. Wenig später nimmt Max gegenüber von mir Platz.

"So. Deine Mutter hat mir am Telefon schon ein bisschen was über dich erzählt. Aber vielleicht möchtest du nochmal aus deiner Perspektive sagen, wieso du überhaupt hier bist?"

Ich nicke, doch dann zögere ich. Ich weiß überhaupt nicht, wo ich anfangen soll. Alles scheint irgendwie chaotisch zu sein. Eine Weile ist es ruhig, und ich rechne schon damit, dass er eine andere Frage stellt, um mich zum Reden zu bringen - doch Max scheint da sehr geduldig zu sein.

 "Gut, also... Ich fühle mich gerade ziemlich verloren. Es fühlt sich an, als würde mein Leben völlig aus den Fugen geraten und ich die Kontrolle verlieren." Meine Stimme zittert ein wenig, als ich anfange zu sprechen. "Erst einmal die Epilepsie. Ich habe zur Zeit ziemlich viele Anfälle.", beginne ich. Wieder einmal bringt mich das Thema in Verlegenheit, obwohl ich weiß, dass es das nicht sollte. In meinem Hals bildet sich ein Kloß. "Das ist nicht so leicht."

Ich weiche Max' Blick aus, der mich zu durchleuchten scheint. "Du scheinst dich nicht wohl bei dem Thema zu fühlen.", sagt er.

Ich nicke. "Ja, nicht so wirklich."

"Wir können natürlich auch über etwas anderes reden, wenn du das möchtest. Aber vielleicht würde es dir helfen, mal in Worte zu fassen, warum du dich dabei so unwohl fühlst."

Ich schlucke. "Weil ich so ausgeliefert bin und nichts mitbekomme. Ich weiß nicht, ob ich irgendwelche Dinge mache oder sage, an die ich mich später nicht erinnern kann. Oder ob ich nicht doch irgendwann einfach daran sterbe, weil ein Anfall zu lange dauert."

"Kontrollverlust.", fasst Max es perfekt in einem Wort zusammen.

Ich nicke. "Ja, genau das."

"Das kann sehr beängstigend sein.", sagt Max. "Was ist mit den Menschen in deinem Umfeld? Wie gehen die damit um?"

Ich erzähle von meinen Eltern, von Theo... und schließlich auch von Josh. Ich finde es ein bisschen merkwürdig, einem fremden Mann von meiner verflossenen Liebe zu erzählen, davon, wie ich verletzt und fallen gelassen wurde... Doch irgendwie schafft Max es mit seiner Art ganz gut, mich zum Reden zu bringen. Die Stunde geht wahnsinnig schnell vorbei. Danach fühle ich mich ziemlich fertig und kaputt, ich habe ziemlich viel geweint, doch gleichzeitig bin ich - obwohl sich mein Leben in den letzten 60 Minuten nicht grundlegend geändert hat - auf eine merkwürdige Art auch erleichtert.


controlWhere stories live. Discover now