zweiundvierzig

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Den Rest der Ferien verbringe ich zum Glück nicht im Krankenhaus, sondern mehr oder weniger entspannt zu Hause. Zwischendurch unternehme ich kleine Sachen mit meinen Eltern oder mit Theo, aber besonders aktiv bin ich nicht. Mir fehlt für alles die Kraft und die Lust. Es tut immer noch weh. Alles fühlt sich irgendwie schwer an.

Mama eröffnet mir, dass sie für mich einen Termin bei einem Kinder- und Jugendpsychotherapeuten gemacht hat. "Der Termin ist nächste Woche, erst einmal nur zum Kennenlernen und Ausprobieren. Wenn du dich wohler fühlst, kann ich mit hingehen. Wenn du nicht möchtest, kann ich den Termin auch wieder absagen. Aber denk mal in Ruhe darüber nach."

Ich nicke nur. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es mir helfen könnte. Gleichzeitig sträubt sich etwas in mir dagegen, mit einer fremden Person über meine Gefühle zu reden. Generell über meine Gefühle zu reden. Ich bin froh, dass ich noch ein bisschen Zeit habe, mir das zu überlegen.

Am meisten graut es mir vor dem ersten Schultag nach den Ferien - dem Tag, an dem ich Josh wiedersehen muss. Es ist klar, dass wir uns nicht ewig aus dem Weg gehen können. Irgendwann werden wir uns begegnen. Ich weiß, dass auch zwischen Theo und Josh eine Weile ziemlich dicke Luft geherrscht hat, doch mittlerweile haben sie sich wohl wieder vertragen. Theo und ich haben das Thema "Josh" zwar erfolgreich gemieden, aber die Basics bekomme ich trotzdem irgendwie mit. Ich bin froh, dass sie wenigstens so viel Rücksicht nehmen, sich nicht bei uns zu Hause zu treffen.

Doch dass ich Josh jetzt seit fast zwei Wochen nicht begegnet bin, steigert in mir nur noch mehr die Angst, ihn wiederzusehen. Wie ein Ungeheuer in meinem Kopf, das immer größer und größer wird, je mehr man versucht, es auszublenden.

Obwohl sich die Ferien irgendwie hinziehen - wahrscheinlich weil ich fast nur zu Hause rumhänge - sind sie dann doch zu schnell vorbei. Als mein Wecker am Montagmorgen wieder um viertel vor sieben klingelt, habe ich schon keine Lust mehr. Trotzdem quäle ich mich aus dem Bett. Die Schule lief in letzter Zeit nicht besonders gut für mich. Ich muss jetzt irgendwie mithalten, und das werde ich nicht schaffen, indem ich zu Hause bleibe und mich vor all dem (und vor allem vor Josh) drücke.

Ich suche mir schnell ein Outfit zusammen, versuche meine Augenringe einigermaßen abzudecken und packe meine Schulsachen. Nachdem ich unten schnell ein Frühstück verschlungen habe und die Zähne geputzt habe, warte ich unten auf Theo, der sich mal wieder Zeit lässt. 

"Geht es dir gut heute?", fragt Mama und schaut mich prüfend an. Ich nicke. "Ja, mach dir keine Sorgen."

Mama lächelt mir ermutigend zu. Uns ist beiden bewusst, dass sie nicht nur einen möglichen Anfall, sondern vor allem das mit Josh gemeint hat. Dass ich ihm heute, wenn ich Pech habe, begegnen muss und gar keine Ahnung habe, wie ich darauf reagieren werde.

In diesem Moment kommt - endlich - Theo nach unten und zieht sich seine Schuhe an. "Wir können los.", sagt er zufrieden zu mir, als würde ich nicht schon ewig auf ihn warten. Aber ich kann mich auch unmöglich beschweren, da er mich ja netterweise immer mit zur Schule nimmt.

***

So sehr ich auch hoffe, noch einen Tag davon verschont zu bleiben, Josh zu sehen - mein Wunsch wird natürlich nicht erhört. Mir ist klar, dass es natürlich auch nicht besser wird, je länger ich ihm nicht begegne, aber trotzdem habe ich mir so etwas wie eine kleine Schonfrist erhofft. 

Ich kann die ersten beiden Stunden unversehrt hinter mich bringen und mein Plan ist es, in der Pause nur ganz kurz meine Sachen in meinem Schließfach zu verstauen, um mich dann an einen Ort zurückzuziehen, an dem ich meine Ruhe habe und Josh garantiert nicht begegnen werde. Der erste Teil meines Planes funktioniert auch ganz gut. Danach will ich mich in die Schulbibliothek begeben, wo wirklich nur die Streber die Pausen verbringen - aber dort fühle ich mich um einiges wohler als auf dem Schulhof oder in der Mensa alleine zwischen viel zu vielen Menschen.

Ich kämpfe mich gerade durch den Flur, als ich auf eine merkwürdige Art seine Präsenz spüre. Irgendwie weiß ich, dass er gerade hier ist, ohne ihn vorher gesehen zu haben. Und auch wenn ich am liebsten umdrehen und verschwinden würde, bevor Josh mich ebenfalls bemerkt, huscht mein Blick umher.

Schließlich treffen sich unsere Blicke im genau gleichen Moment, als hätte er ebenfalls nach mir Ausschau gehalten. Kurz scheint die Zeit stillzustehen. Es fühlt sich an, als wären wir völlig alleine in diesem Flur.

Josh sieht ziemlich elend aus, das ist das erste, was mir auffällt. Und ich bin mir sicher, dass ich mir das nicht nur einbilde. Es scheint, als hätte er abgenommen, jedenfalls sehen seine Wangen etwas eingefallener aus als zuvor. Unter seinen Augen liegen dunkle Schatten und generell wirkt es, als hätte er in letzter Zeit nicht besonders gut geschlafen. Alles in mir schreit danach, ihn in den Arm zu nehmen und zu sagen, dass alles gut ist - dann jedoch fällt mir ein, dass er es war, der uns ein Ende gesetzt hat. Er hat diese Entscheidung getroffen.

Joshs Augenbrauen ziehen sich kaum merklich zusammen, als er mich sieht, und seine Lippen öffnen sich einen Spalt breit, als wollte er etwas sagen. Doch er bleibt stumm, wir beide bleiben stumm. Es gäbe so viel zu bereden - und gleichzeitig ist schon alles gesagt.

Schließlich ist er es, der sich abwendet. Im selben Moment wird sein Blick wieder zu einer undurchdringlichen Maske. Wenn ich unseren Blickkontakt nicht so intensiv gespürt hätte, könnte man denken, dass er mich überhaupt nicht wahrgenommen hat.

Ich umklammere meine Bücher, versuche meine Atmung zu beruhigen und begebe mich fluchtartig in die Schulbibliothek.

controlWhere stories live. Discover now