2. Überraschung

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Ich schlenderte jetzt schon das zweite Mal an dieser Gruppe von Rehwandlern vorbei und sah mich in der waldnahen Stadt um.
Jede Menge Leute liefen in erster und zweiter Gestalt herum, ob Vögel, Menschen, Wölfe, Pferde, Löwen oder sonst etwas.
In den Städten der Wandler war es friedlich zwischen den verschiedenen Tierarten und die zweiten Gestalten der Leute standen nicht so sehr im Vordergrund, wie sie es in der wilden Natur taten.

Ich ließ meinen Blick schweifen und da kam mir jemand entgegen.
Es war eine Gruppe von Löwenwandlern, die, angeführt von einem pechschwarzen Wolf, eine reich aussehende Frau eskortierten.
Ich musterte das kleine Grüppchen, das mir entgegen kam und der Blick des schwarzen Wolfes traf auf meinen.
Ich blieb unwillkürlich stehen und verlor mich in seinen Augen.
Sie waren... weiß. Genau, wie mein Fell es war.
Schneeweiße, durchdringende Augen.

Ohne irgend eine Verbindung zu ihm zu haben, ohne ihn je gekannt zu haben, wusste ich plötzlich seinen Namen.
Er... hieß Zayl.
In meinem Kopf wand sich plötzlich ein abstrakter Gedanke. Ich sah die beiden Tiger meiner Träume vor mir und wie sie sich an den Tatzen fassten. Blut tropfte auf den Boden, wie ich es jedes Mal sah. Aber etwas war anders. Hinter den Tigern, fern am Waldrand ganz hinten, dort spähten mich zwei schneeweiße, durchdringende Wolfsaugen an.
Nur für den Bruchteil einer Sekunde waren sie da. Durchdrangen meinen Körper mit ihrer Kälte, dann plötzlich nicht mehr.
Die Augen waren weg.
Keine Gestalt war mehr hinter den beiden Tigern zu sehen.
Ihre Felle, schwarz mit weißen Streifen und weiß mit schwarzen Streifen, verronnen ineinander und lösten sich vor meinen geistigen Augen auf.

Da ertönte plötzlich eine besorgte Frauenstimme.
"Hallo? Geht es dir gut?" murmelte sie und ich öffnete meine müden Augen.
Verwirrt blickte ich in den Himmel und in das Gesicht einer braunhaarigen, reifen Frau.
Ich lag auf dem Rücken und spürte einen dumpfen Schmerz an meinem Hinterkopf... Ich war wohl ohnmächtig geworden...
Ich hatte noch nie eine Vision mitten am Tag.

"Kannst du mich hören?" fragte die Dame erneut und ich nickte benebelt.
"Ja, geht schon." murmelte ich und setzte mich auf.
Ich saß mitten auf der Straße, umringt von ein paar besorgt aussehenden Leuten. Aber der schwarze Wolf namens Zayl war weg.
Wie lange war ich wohl bewusstlos?...
"Du bist auf den Kopf gefallen. Geht es dir wirklich gut?" meinte plötzlich eine zweite Frau, direkt neben mir und strich über meinen Hinterkopf. Auf ihren Fingern waren Spuren von Blut zu sehen.
Ich nickte und versicherte ihr, dass ich in Ordnung war und stand mit ihrer Hilfe auf.
Nächstes Mal sollte ich mir eine Bank suchen, bevor ich einfach umkippte.

Plötzlich fing mein Handy an, zu läuten und ich fing es aus meiner Hosentasche.
Es war noch heile.

Die Leute um mich herum gingen langsam weg, nachdem sie merkten, dass es mir gut ging und ich ging an mein Handy, nur um von meinem Bruder angeschrien zu werden.
"Miko! Sag mal, spinnst du!? Du hättest Nayl vor einer halben Stunde von der Schule abholen sollen!" kreischte er mich an und ich sah verwirrt auf die Uhr.
"Autum, es ist erst halb 12... Warum-..." "Er hatte heute eine Unterrichtsstunde weniger! Seine Schule hat mich angerufen, er ist Weg, Miko! Nayl ist verschwunden!" unterbrach er mich und im selben Moment fiel es mir wieder ein.
Nayl hatte heute nur vier Stunden unterricht...
Und jetzt war er weg, weil ich ihn nicht abgeholt hatte.
Der Kleine war erst 6...

"Autum, es-..." "Ich will deine Entschuldigung nicht hören, Miko. Finde meinen Sohn, dann können wir reden!"
Und schon hatte er aufgelegt.
Überfordert strich ich durch meine weißen Haare und sah mich um.
Nayl konnte doch alleine nicht so weit gekommen sein.
Auch, wenn es bereits eine halbe Stunde her war... ?

Was redete ich da? Der Kleine konnte überall sein...
"Verdammt..." fluchte ich leise und steckte mein Handy weg.
Ich hätte besser aufpassen sollen oder auf die Uhr schauen... vielleicht hatte seine Schule mich angerufen? Nein, davon hatte ich nichts bemerkt.
Ich war auch keine Kontaktperson... nur der Depp, der für ihn verantwortlich war, wenn sein Daddy jagen war und Besseres zu tun hatte.

Seufzend schüttelte ich den Kopf und ging davon. In die Richtung von Nayls Schule.
Ich musste den Kleinen wiederfinden... wenn mir das nicht gelang, würde mein ganzes Rudel mich noch mehr verabscheuen als sie es bereits taten.
Abgesehen von der Gefahr, der Nayl ausgesetzt war.

Also riss ich mich zusammen und konzentrierte mich auf meine zweite Gestalt.
Als Wolf konnte ich ihn besser aufspüren, alleine dank meiner scharfen Nase und meinen guten Ohren.
Ich schloss die Augen und stellte mir meine zweite Gestalt vor.
Schneeweißes Fell, vier pelzige Beine mit weichen Pfoten und langen Krallen.
Eine lange Wolfsschnauze, ein Maul mit stabilen, langen Zähnen und einer rosaroten, hechelnden Zunge.
Sofort spürte ich, wie sich mein Körper verformte und nach vorne überbeugte.

Nur Sekunden später stand ich als Wolf auf den Straßen der Stadt und sah mich um.
Meine Nase nahm die zahllosen Gerüche der anderen Wandler auf. Ob Reh, Wolf oder Hase, ich roch jeden einzelnen.
Aber von Nayl war keine Spur.
Vielleicht war er zu weit weg...

Langsam setzte ich mich in Bewegung, suchte jede Gasse nach den Geruch des Kleinen ab und horchte auf jedes mir vertraute Geräusch.
Außer den vorbeiziehenden Wandlern auf den Straßen fiel mir nichts auf. Auch, als ich Nayls Schule immer näher kam und seinen Geruch von heute morgen bereits wahrnahm, war dieser schal und abgetragen.

Es war, als wäre der Kleine einfach spurlos verschwunden...

𝑺𝒏𝒐𝒘𝒇𝒂𝒍𝒍 𝒎𝒊𝒅 𝒔𝒖𝒎𝒎𝒆𝒓 |BLWo Geschichten leben. Entdecke jetzt