6. warte

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Bald darauf hatten ich und Zayl uns etwas unterhalten und er hatte mir von Karsa und seiner Mutter, Vi, eine Hönigmilch geholt.
Wir hatten festgestellt, dass ich immernoch Fieber hatte...

Zayl war die ganze Zeit bei mir geblieben, hatte mir von seinen Visionen erzählt und sie mit meinen verglichen.
Sie waren exakt gleich.
Der schwarze und der weiße Tiger, die sich in die Pratze des anderen krallten, der Boden von Blut geflutet und mitten im trostlosen Wald.
Aber, was ich früher nie bemerkt hatte, war die Tatsache, dass auf der gegenüber liegenden Seite ein anderer Wolf stand.
Zayl hatte meine weiße Wolfsgestalt natürlich bemerkt, aber ich hatte seine pechschwarze, in den Schatten versteckte Gestalt nie bemerkt.
Bis letzter Nacht.

"Aber... was hat die Vision zu bedeuten? Und warum ist dein Neffe in unserer letzten Vision gewesen?" fragte Zayl beiläufig und sippte an seiner eigenen Tasse, gefüllt mit Kaffee.
"Ich weiß es nicht... seit er verschwunden ist, höre ich seine Stimme immer öfter... sein Jaulen oder Sätze, die er mir zuflüstert. I-ich... weiß nicht, was ich machen soll. Ich finde ihn alleine nicht und mein Rudel hasst mich noch mehr, seit mir das passiert ist."
Und schon redete ich mir meine Seele vom Leib... eine nervige Angewohnheit.

"Hey, wir werden das sicher wieder hinbekommen, in Ordnung? Du kannst hier bleiben, dich ausruhen und wir helfen dir bei der Suche nach Nayl." lächelte Zayl mir zu und stellte seine Tasse weg.
Er richtete sein dunkelblaues, weites Shirt und den dünnen, schwarzen Schal um seinen Hals.
Warte mal...
Der war mir gar nicht aufgefallen.

"Warum hast du... einen Schal?" fragte ich, ziemlich aus dem Nichts und Zayl sah mich überrumpelt an.
"Naja... ich glaube, du hast den plötzlichen Temperaturfall schon bemerkt?" murmelte er belustigt und ich nickte.
"Ja... egal, sorry dass ich gefragt habe. Blöde Frage." seufzte ich und kippte den letzten Rest meiner Honigmilch meine Kehle hinunter.
Da ging plötzlich die Zimmertür auf und Vi stand darin.

"Mom? Was-..." "Zayl, du musst dir das ansehen!" schnitt die erschrockene Frau ihm den Satz ab und ihre beunruhigte Stimme ließ den Rudelalpha aufhorchen.
"Was ist passiert?" fragte er, aber seine Mutter war bereits wieder verschwunden.
"Fuck, Vi! Warte!"
Grummelnd strich er durch seine pechschwarzen Haare und sah mich an.
"Ich... komm mit." murmelte ich und zog die Decke von meinen Schultern.
"Na schön, aber zieh die hier an." meinte er und fischte eine seiner Jacken von einem Haken an der Wand.
Er hing sie über meine Schultern, nahm meine Hand und zog mich hinter sich her, aus dem Zimmer und die Stufen des Hauses hinunter.
Dort warteten schon mehrere Wandler, mit verschreckten Gesichtsausdrücken und weinenden Kindern auf den Armen.
Als sie mich sahen, schienen sie misstrauisch und eine von ihnen scheuchte ihren Welpen von mir weg.

Verwirrt folgte ich Zayl aus dem Haus und in das zugeschneite Lager.
Vi rannte uns vorraus, barfuß im kalten, nassen Schnee, was sie aber nicht zu stören schien.
Sie war zu verschreckt, um es zu bemerken.
Die Wolfsmutter zeigte uns den Weg zu einem gut gesicherten, großen Bau.
Jedoch sah ich schon von hier, dass aus dem Eingang Blut lief.

"Was ist passiert?!" rief Zayl erschrocken und rannte an seiner Mutter vorbei, zog mich mit und kam vor dem Bau zum Stehen.
Ich stellte mich neben ihn und er drückte mit seiner Hand die Blätter und Äste, die den Bau abschirmten, weg.
Vor uns ergab sich ein grässliches Abbild...

"Kayla..." flüsterte Zayl und in seiner Stimme erkannte ich den scharfen Schmerz.
Inmitten des Baus lag ein kleiner Welpenkörper. Blut war überall verteilt, auf die Äste gespritzt und in den Schnee gesickert.
Der Wolfswelpe lag mit weit aufgerissenen, trüben Augen im Schnee, sein Pelz vor Blut verklebt und sein Maul weit offen.
Der Unterkiefer war definitiv gebrochen, die Beinchen waren verdreht und um den Körper herum waren Pfotenabdrücke zu sehen.

Aber was noch erschreckender war... waren die weißen Fellfetzen, die rund um den dunkelgrauen Welpen lagen.
Zwischen seinen Zähnen steckten ebenfalls Fetzen weißen Felles.
"Wir haben keine weißen Wölfe in unserem Rudel. Auch in der Umgebung nicht. Der einzige, weiße Wölf wäre..."
Als Vi das sagte, sah sie mich an.
Verängstigt versteckte ich mich hinter Zayl, der nichts davon mit zu bekommen schien.
Er war zu fokussiert auf den toten Körper vor uns.

"Veronica... Ich..." murmelte ich unsicher und zog die Jacke, die Zayl mir gegeben hatte, enger.
Meine Beine zitterten, sei es vor Angst, dem Fieber oder der Kälte...
Ich konnte mir das auch nicht erklären, genauso wenig wie sie oder Zayl.
Aber... sie hatte dennoch recht.
Ich war der einzige weiße Wolf. In ihrem Rudel, in meinem Rudel... im ganzen Umfeld.

"Wir... wir müssen reden." meinte plötzlich Zayl, der sich aus seiner Starre gelöst hatte und packte mein Handgelenk mit einer erschreckenden Festigkeit.
Ruckartig drehte er sich um und zog mich mit sich.
"Zayl, ich-..." "Sei still!" fuhr er dazwischen und ich hielt den Mund.
Sein Tonfall duldete keine Wiederrede und der Druck um mein Handgelenk wurde nur fester.

Er zog mich aus dem Lager, durch schneebedeckte Lichtungen und bis in den tiefen Wald.
Die Schneeflocken schneiten uns ins Gesicht, die Kälte fuhr scharf in meine Hände und ich spürte, dass Zayl zitterte.

Kurz darauf blieb er stehen, drehte sich um und sah mich ernst an.
Nun waren wir vollkommen alleine.
Wollte Zayl mich angreifen, könnte er das.
Ich hatte Fieber, ich war schwächer als er und wir waren alleine.
Aber er sah mich nur still an.

Und er wartete.

𝑺𝒏𝒐𝒘𝒇𝒂𝒍𝒍 𝒎𝒊𝒅 𝒔𝒖𝒎𝒎𝒆𝒓 |BLWhere stories live. Discover now