3. Temperaturdurchschnitt

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Ein paar Stunden später war ich bereits durch die halbe Stadt gelaufen, ohne eine Spur zu finden.
Nayls Lehrerin hatte keine Ahnung, wo er hin war, niemand hatte etwas gesehen und auch sein Geruch war wie vom Winde verweht.
Nicht einmal der Rest meines Rudels, welcher in der ganzen Stadt verteilt war, fand ihn.
Wir unterhielten uns über die Verbindungen in unseren Köpfen und teilten einander mit, wo wir bereits gesucht hatten.
Aber niemand hatte bisher eine Spur von Nayls Standort.

»Beim Rathaus ist er auch nicht. Ich suche in Richtung Kino weiter.« ertönte Hatchers Stimme in meinem Kopf, der extra vom Lager in die Stadt gefahren war.
Er hatte Liam und ein paar andere mitgenommen.
Ich hörte immerwieder irgendjemanden reden und Positionen durchgeben, an denen Nayl nicht zu finden war. Und jedes Mal wuchs meine Angst, dass ihm wirklich etwas zugestoßen war.
Abgesehen von Nayl wäre ich dann der Idiot, der ihn aus den Augen gelassen hatte. Dann hätten all die anderen einen richtigen Grund, mich noch mehr zu hassen.
Bei dem Gedanken daran blieb ich unwillkührlich stehen und legte die Ohren an.
Das hatte ich wirklich vermasselt.

Ein 6-jähriger konnte doch alleine nicht so weit gekommen sein...
In so einer einfachen, überfüllten Wandlerstadt hätte ihn doch jemand sehen müssen.
Oder... war er vielleicht wirklich verschwunden?
Nicht gegangen, sondern verschwunden?

Irgendwie kam ich mir dumm vor.
Warum ich überhaupt in Erwägung zog, dass er einfach verschwinden könnte.
"Miko..."
Erschrocken fuhr ich herum und stellte die Ohren auf.
Niemand war da.
Ich war mir sicher, Nayls Stimme neben meinem Ohr gehört zu haben.
Ein leises Flüstern... vom Winde verweht.
War das Einbildung?

"Miko..."
Da war es wieder.
Es war nicht in meinem Kopf, sondern kam aus der Luft.
Oder den Schatten der Stadt.
"Komm her..." flüsterte die Stimme erneut und ich suchte verzweifelt nach der Quelle der Stimme.
Nayl?
Er war nicht hier. Aber seine Stimme...?

"Miko... komm schon... ich warte."
Irgendwas stimmte da nicht. Irgendwas war falsch. Aber ich musste ihn finden.
Also rannte ich in die Richtung, aus der Nayls Stimme meiner Meinung nach kam und blendete alle anderen Geräusche meiner Umgebung aus.
Ich konzentrierte mich nur auf das leise Flüstern, das mir sagte, ich würde auf dem richtigen Weg laufen.
Immer schneller trugen mich meine vier Beine durch die Stadtstraßen und ich kam bald zu einer versteckten Seitenstraße.
Ich spähte hinein, überrascht über das plötzliche Verstummen von Nayls Stimme.
In der dunklen, tiefen Gasse war etwas zu sehen.
Eine Tigergestalt mit schwarzem Fell und weißen Streifen. Sie starrte mich aus weißen, leeren Augen an und setzte eine Pratze vor die andere, auf mich zu.
Als die Gestalt aber aus den Schatten trat, verblasste sie und löste sich auf.
Der Tiger war weg.
Und Nayls Stimme auch.
Halluzinierte ich jetzt schon?
War der Tiger überhaupt wirklich da?
Hatte ich Nayls Stimme überhaupt gehört?

Plötzlich spürte ich etwas kaltes auf der Spitze meiner Schnauze.
Verwirrt schielte ich darauf und entdeckte eine einzelne, winzige Schneeflocke. Sie schmolz innerhalb einer Sekunde und hinterließ einen kleinen Wassertropfen auf meiner Schnauze.
Warum...?
Langsam hoch ich den Kopf und blickte nach oben.
Es begann tatsächlich, zu schneien..

»Hey, Leute... seht ihr das auch?« ertönte Liams Stimme in meinem Kopf und auch die anderen schienen verwirrt.
»Es schneit...« »Ja wirklich...« »Aber wir haben erst Juni...«
Ja, das stimmte. Wir hatten Juni. Es war gewöhnlich Hochsommer.

Langsam fielen immer mehr und mehr Schneeflocken vom Himmel und zuckerten die Stadtstraßen zu.
Die Leute um mich herum blickten verwirrt hinauf, zogen ihre dünnen Jacken enger und drehten sich gegen den aufziehenden, kalten Wind, der durch die Gassen zog.
Manche von ihnen wechselten in ihre zweite Gestalt, um sich mit ihrem Fell zu wärmen.
»Autum, wir müssen die Suche abbrechen. Es wird spät, warum auch immer fängt es an, zu schneien und wir müssen uns um das Lager und das Essen kümmern.« hörte ich plötzlich die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf und darauf folgte die aufgeregte Antwort meines Bruders.
»Ich kann meinen Sohn nicht bei dem Wetter und Nachts, alleine herumlaufen lassen! Nicht nachdem Miko ihn einfach vergessen hat!« »Hey, ich hatte gesundheitliche Schwierigkeiten!« mischte ich mich ein und gab die Suche nach Nayls Geruch ein für alle Mal auf.
»Mich schert nicht, was du gemacht hast! Du hast meinen Sohn verloren! Nichtmal dazu bist du gut. Ich hab einen Idioten von Bruder!« »Autum! Lass deinen Bruder in Ruhe! Wir reden zuhause, verstanden?« fuhr Hatcher dazwischen und es herrschte Stille.
Hatcher blühte in seiner Rolle als Ersatzvater für mich und Autum wirklich auf... Er war neben meiner Mutter und Nayl der einzige, der mich wie jedes andere, normale Familienmitglied ansah.
Aber er hatte recht. So wie es aussah, war Nayl nicht mehr in unserer Reichweite.

.
Am späten Abend hatten wir uns zu einer Rudelversammlung im Lager im Wald zusammengefunden, während meine Mutter mit Risha und Mona, ihrer ausgebildeten Hebame, die Welpen fütterte und für uns kochte.
Wir, die übrigen, saßen, meißtens als Menschen, im Kreis um ein Feuer mitten in unserem Lager und diskutierten fleißig. Auch, wenn ich dabei nicht viel mitzureden hatte.

Während sich die anderen ihre Mäuler über mich und Nayls spurlosem Verschwinden zerrissen, saß ich mit einer improvisatorischen Jacke, aus einer Decke und einem Hemd zusammengeschustert, auf einem der Holzstämme. Seit wir uns versammelt hatten, war der Himmel dunkel geworden, Wind war aufgezogen und die Schneeflocken fielen in Massen.
Im Laufe des Nachmittags war die Durchschnittstemperatur auf 5 Grad gesunken und in den meißten Teilen der Stadt war Nebel aufgezogen.

Aber egal, wie lange wir noch streiten würden, Nayl müsste diese Nacht ohne seinen Vater und seine Mutter verbringen.
Seufzend sah ich mich um und spähte in den dichten, dunklen Wald, der uns umgab.
Ich hörte leises Jaulen. Das Jaulen eines jungen, einzelnen Wolfswelpen. Es war exakt das selbe, wie es von Nayls zweiter Gestalt zu hören war.
Aber ich wusste, dass er nicht hier war. Niemand sonst hörte das Heulen.
Niemand reagierte darauf.
Und sein Geruch war auch nicht zu finden.

Das war alles nur in meinem Kopf.

𝑺𝒏𝒐𝒘𝒇𝒂𝒍𝒍 𝒎𝒊𝒅 𝒔𝒖𝒎𝒎𝒆𝒓 |BLWo Geschichten leben. Entdecke jetzt