Kapitel 4 - Juans Sicht

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Wir hatten zuende gefrühstückt, wobei nur wenige Worte gefallen waren. Aber mir persönlich hatte das nichts ausgemacht. Viel eher hatte ich die Stille zwischen uns genossen. Man konnte zwar meinen, dass wir Fremde waren aber wir beide wussten genau, dass wir nicht viel sprechen mussten, um uns zu verstehen, denn wir kannten uns gegenseitig noch gut genug.

Am Strand angekommen fielen meine Mitbringsel achtlos auf die Erde, unbeachtet von mir, denn meine Wenigkeit näherte sich lieber dem Meer, welches sich am Ufer in kleinen Schüben wellenartig immer wieder mir näherte und die kleinen Steinchen und Muscheln regelmäßig von einer Seite auf die andere schob. Kurz bevor das Salzwasser meine nackten Zehen berühren konnte, blieb ich mit verschränkten Armen stehen und blickte geradeaus auf das Meer hinaus, welches hinten am Horizont verschwand. Der Strand war um diese Zeit noch fast leer. Nur hinten, nahe kleinen Felsen entdeckte ich vereinzelnd ein paar Strandgäste, die die Sonne, welche aufgrund der Tageszeit noch relativ tief am Himmel stand, deutlich genossen. Auch ich genoss die Ruhe, die hier am Strand herrschte. Vor allem weil ich genau wusste, dass es nicht mehr lange dauerte, bis der Strand wieder brechend voll und laut war. Spätestens wenn die ersten Schüler im Hotel zuende gefrühstückt hatten.

Ungewollt schlich sich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen, während ich meine Begleitung für einen kurzen Moment aus meinen Gedanken verbannte. Dieser Geruch der Meeresbrise, die Wogen des Meeres, die Geräusche der Möwen, welche mit ausgebreiteten Schwingen über die türkise Wasseroberfläche glitten... Eine Woge der Traurigkeit überkam mich für den Bruchteil einer Sekunde, doch ich war zu stolz, um mir anmerken zu lassen, dass ich mein Heimatland Portugal vermisste, welches ich das letzte Mal vor etwa sechs Jahren betreten hatte. Ich vermisste Portugal. Die Landschaft, Kultur und auch die Sprache. Aber nicht meinen Vater, der dort auf seinen Sohn wartete, welcher sein Nachfolger als Regiesseur werden sollte.

Langsam drehte ich mich zu Gwen um, die mittlerweile nur noch im Bikini im Sand stand und mit funkelnden Augen aufs Meer hinausschaute. Meine Mundwinkel zuckten leicht nach oben, während ich mir ebenfalls das Oberteil über den Kopf zog und anschließend langsam ins blaue Nass hineinwatete.

Die gräulichen Wolken, die den Himmel zierten, beachtete ich nicht. Ich hatte weder etwas gegen Regen noch gegen Gewitter. Im Gegenteil: Sommerregen hatte doch hin und wieder ein paar Vorteile. Erstens war das Wasser noch wärmer als es ohnehin schon im Sommer war. Und zweitens schreckte es andere Menschen ab, an den Strand zu gehen. Denn meistens wurde der Regen am Strand nicht herzlich willkommen geheißen.

Auch Gwen schien die Wolken bemerkt zu haben, denn ihr Blick war ebenfalls nach oben gewandert, wobei sie die Wolken mit einem leichten Lächeln betrachtete. Es schien beinahe so, als würde sie sich ebenfalls nach einem leichten und warmen Sommerregen sehnen. Für einen Moment blieb ich schweigend stehen und genoss das Wasser, welches gegen meine langen Beine schwappte. Da ich keine Lust auf öden Smalltalk hatte und allgemein Kommunikationen zwischen Fremden - im Grunde waren wir in meinen Augen nur Bekannte - nicht schätzte, vergrößerte ich die Distanz zwischen mir und der Französin einwenig, in dem ich mich von ihr entfernte und mich einem Felsen näherte, auf den man ohne große Probleme klettern konnte ohne sich dabei zu verletzen.

Vorsichtig setzte ich meine nackten Zehen an den kühlen Fels und kletterte mit wenigen Griffen nach oben, wo ich erstmal stehen blieb und von dort aus den Anblick genoss, als es bereits begann zu tröpfeln. Ich war vielleicht etwa 10 Meter von meiner alten Freundin entfernt, die sich ihren eigenen Weg durch die Wellen bahnte und stehen blieb, als sie scheinbar von einem Regentropfen getroffen wurde.

Mit einem entspannten Lächeln auf den Lippen ließ ich mich auf dem Felsen nieder, ließ meine Beine nach unten baumeln, während mein Blick über das Meer zurück zu Gwendolyn schweifte. Die Regentropfen fielen währenddessen unablässig vom Himmel herab und tränkten mein Haar, welches kurze Zeit später tropfnass an meinem Gesicht klebte, was ich jedoch mit einer raschen Handbewegung wieder änderte. Ich verlagerte mein Gewicht etwas nach hinten und lehnte mich etwas zurück, wobei mein neutraler Blick meiner Maske weiterhin auf der jungen Frau verweilte, die scheinbar so in Gedanken versunken war, dass sie vergaß dass sie noch eine Begleitung bei sich hatte, die sie beobachten konnte. Denn Gwen hatte ihre Nase in die Luft gestreckt, hatte scheinbar die Augen geschlossen und schien sich nach einer Zeit lang vollkommen in ihrer eigenen Welt verloren zu haben. Inmitten des prasselnden Regens begann sie zu tanzen. Mit erhobenem Haupt und gen Himmel gestreckten Armen drehte sie sich mehrmals um die eigene Achse, wobei ihre nassen Haare durch die Luft gewirbelt wurden und lachte, wobei das Lachen jedoch nur leise bis zu mir hinüber getragen wurde.

Je länger ich sie dabei beobachtete, wie sie ihre taffe und temperamentvolle Art für einen Moment ablegte, desto ehrlicher wurde mein Lächeln, bis es schließlich auch meine Augen erreichte. Lange hatte ich mich nicht mehr so entspannt und frei gefühlt und das sogar in der Gegenwart eines Menschens, dem ich nur zugeschaut hatte, wie dieser die Natur und die Zeit genoss. Es war die Tatsache, dass wir beide abgegrenzt waren von allen Sorgen, Problemen und Streitereien, die im Internat inmitten der anderen Schüler auf uns warteten. Dieser Moment half mir meine Vergangenheit, die mir meine Kindheit geraubt hatte und mich tage- und auch nächtelang verfolgte, für einen Augenblick zu vergessen.

Doch selbst die angenehmste Szene musste irgendwann enden, denn Gwens Schritte wurden allmählich langsamer, bis sie schließlich stehen blieb und sich erlöst ins Wasser fallen ließ. Mit einem Schmunzeln auf meinen Lippen, klatschte ich zwei, drei Male in die Hände, was sie auffahren ließ. Sie hatte offensichtlich wirklich verdrängt, dass sie nicht alleine war. Durch den kurzen Schreck, den mein Klatschen ausgelöst und sie aus ihren Gedanken gerissen hatte, hatte sie sich für einen Moment an das Herz gefasst, entspannte sich jedoch sofort wieder, als sie sah, dass ich es war. "Herrgott hast du mich zu Tode erschreckt" rief sie nach oben, während sie sich dem Felsen näherte.
Meine Antwort ließ auf sich warten, wobei die Stille ein kurzes Lächeln ersetzte und ich mich nach vorne lehnte um ihr die Hand zu reichen, falls sie ebenfalls auf den Felsen hinauf klettern wollte. "Das nächste Mal sage ich dir Bescheid, falls du wieder vergessen solltest, dass du nicht alleine am Strand bist" meinte ich mit einer Spur Ironie in meiner Stimme. "Aber meiner Meinung nach sollten eindeutig mehr Leute Zuschauer deiner Tänze werden." Daraufhin drohte sie mir jedoch nur mit einem leichten Grinsen, da sie gemerkt hatte, dass ich das keinesfalls ernst gemeint hatte. "Pass auf was du sagst, sonst schups ich dich wieder die Klippe herunter"

Als Antwort hob ich nur meine Augenbrauen an, ehe ich mich wieder auf dem Felsen niederließ und meine Arme locker um meine angewinkelten Knie legte. Auch Gwen ließ sich mit etwas Abstand neben mir nieder, so weit es die Breite des Felsens es ihr erlaubte, ohne dass sie auf der anderen Seite von dem Strandstein fiel. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie sie argwöhnisch nach unten schielte und musste sofort an einen Sommertag vor vielen Jahren zurückdenken.

"Gwen, erst denken, dann handeln" Genervt seufzte ich auf. Dieses Mädchen brachte mich manchmal bis an den Rand des Wahnsinns. "Du hast gut reden, bei dir dreht sich nicht alles, wenn du runter schaust!" war die bemüht gleichgültige Antwort der französischen Brünette, die sich an einen dicken Ast geklammert hatte. Kopfschüttelnd legte ich meinen Kopf in den Nacken und legte mir eine Hand an die Stirn um meine Augen etwas vor der Sonne zu schützen, welche brennend heiß auf uns herabschien. Gwen saß in der Gabel einer alten, dicken Eiche und hatte die Augen fest zusammengekniffen, während sie ihre Beine und Arme um einen mit Moos bewachsenen Ast geschlungen hatte um ja nicht herunterzufallen. "Wenn du dich nicht bewegst, kommst du nie runter" war mein intelligenter Kommentar, worauf sie mich nur zickig mit den Worten "Halt doch die Klappe, Juan" unterbrach. Das Mädchen konnte äußerst reizbar sein, wenn man sie provozierte oder sie versuchte zu verstecken, dass sie eigentlich Angst hatte. Aber wer kletterte denn bitteschön auf einen Baum, obwohl man genau wusste, dass man Höhenangst hatte? Die Antwort war einfach: Gwen. Ich hatte mich dafür bereit erklärt, den Basketball wiederzuholen, der sich nach unserem Basketballspiel in der Baumgabel verfangen hatte und unerreichbar für uns gewesen war. Doch die Französin war bereits mit ihren 12 Jahren stolz genug, um sich durch ihre Höhenangst nicht aufhalten zu lassen, so dass sie geschwind den Baum heraufgeklettert war um mir zu zeigen, dass sie der Höhe genauso gewachsen war wie ich. Und nun befand sich der Ball unten und das Mädchen leider immer noch oben.

Sie hatte scheinbar immer noch Höhenangst. Doch da wir uns nur einen Meter über dem Boden befanden, schien sie sich augenblicklich wieder zu entspannen. "Wie hast du es eigentlich gestern auf der Klippe überstanden, wenn deine...Abneigung gegenüber hohen Plattformen nicht besser geworden ist?" fragte ich sie, wobei ich absichtlich das Wort 'Höhenangst' umging. Gwen wiederum sah mich etwas ertappt an, da sie genau wusste, dass ich mich noch an ihre Angst erinnern konnte. "Bei Wasser ist es anders, aber frag mich nicht wieso", erklärte sie mir und wandte ihren Blick ab, als ich sie skeptisch ansah. So eine Erklärung hörte man immerhin nicht jeden Tag. "Das Wasser wirkt nicht so wie wenn ich auf den Boden gucke. Das ist wie wenn man im Flugzeug ist und bereits nur noch die Wolke sieht", fuhr sie fort und ließ ihren Blick über den Horizont wandern, während ich schwach nickte.

Ein paar Minuten saßen wir nebeneinander auf dem Felsen und genossen den kühlen Wind und den Regen, der unsere Haare und die Klamotten im Sand nässte, während ein Donner über unseren Köpfen ohrenbetäubend grollte und ein Blitz ins Meer einschlug.

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