Kapitel 10 - Juans Sicht

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Als mich jemand an der Schulter antippte, drehte ich mich automatisch um und blieb stehen. Vor mir stand eine kurzhaarige Brünette, die mich warm anlächelte, was ich jedoch nicht erwiderte.

"Hey, ich bin Luisa, ich musste dich einfach ansprechen, weil du mir so sehr aufgefallen bist" sprach sie mich auf fließendem Französisch an. Ich antwortete nicht sofort, viel eher nahm ich mir die Zeit, mein Gegenüber argwöhnisch zu mustern, wobei ich unbewusst meine Arme vor der Brust verschränkte - als Zeichen für mich, dass ich auf Abstand war. In der Zwischenzeit hatte auch meine Begleitung gemerkt, dass ich stehen geblieben war und verriet der Fremden unbewusst meinen Namen, in dem sie mich fragen wollte, warum ich stehen geblieben war.

Anscheinend waren Luisas Flirtversuche so offensichtlich, dass es sogar Gwen mitbekam und sich eindeutig übergangen fühlte, da die Kurzhaarige nur Augen für mich zu haben schien. Nachdenklich hielt ich mich aus der Auseinandersetzung zwischen Gwen und der anderen Französin heraus, wobei viel eher Gwen mit ihrer temperamentvollen und reizbaren Art angriff. Himmel - wieso mussten Frauen immer so schnell auf Ärger aus sein? Ich schloss meine Augen und hob mein Kinn, so dass mein Gesicht für einen Moment dem Himmel zugewandt war. Währenddessen hörte ich nur, wie Gwen klarstellte, dass ich nicht alleine unterwegs war. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen auf die Kampfsportlerin zu warten, bis sie mit ihrer Gardinenpredigt zuende war, doch als die Französin vor uns zur Verteidigung ansetzte und Gwen ebenfalls ankeifte, riss mein Geduldsfaden. "Meiner Meinung nach saht ihr nicht so aus, als ob ihr eine Beziehung-"

Ohne irgendetwas zu sagen, steckte ich meine Hände in die Hosentaschen, drehte mich um und entfernte mich augenverdrehend von den beiden Streithähnen, welche in diesem Falle eher Hennen ähnelten, die versuchten, ihre Eier zu verteidigen.

Trotz ihrer hitzigen Auseinandersetzung bekamen beide doch tatsächlich mit, dass ich nicht mehr neben ihnen stand, denn die Stimmen hinter mir verstummten für einen Moment - es würde also offensichtlich nicht zu einer Eskalation kommen. Ich näherte mich schweigend dem Eiswagen, welcher wenige Schritte entfernt aufgebaut war und bestellte mir ein Schokoladeneis, als Gwen angedampft kam. Skeptisch sah ich ihr entgegen und befürchtete bereits, dass die Fremde Gwen aus Zorn und Eifersucht verfolgt hatte. Doch auf der Straße hinter der Brünetten, war weit und breit nichts von Luisa zu sehen. "Hast du alles an ihr ausgelassen, was dir im Kopf herumgeschwirrt ist?" Als Antwort auf meine Frage erhielt ich ein Schnauben, gefolgt von einem: "Nein ich hab noch was für dich übrig gelassen. Mich zu ignorieren scheint gerade wohl In geworden zu sein." Mit diesen Worten schnappte sie sich kurzerhand mein Schokoladeneis, welches ich von dem Verkäufer erhalten hatte und hob ihren Blick um mir für einen kurzen Moment in die Augen zu sehen.
"Ich war überzeugt du bist dazu in der Lage das auch ohne mich zu klären, da wollte ich nicht weiter stören." Bevor sie mein Eis überhaupt mit ihren Lippen berühren konnte, hatte ich es mir bereits wieder zurückerobert. "Kauf dir selbst eins" meinte ich, während ich ihr eine Münze in die Hand drückte. Ich ließ mich nicht beirren, als mich Gwen für einen Moment anfunkelte, was ich jedoch nicht ernst nehmen konnte. Und dem überraschten Blick zufolge, als ich ihr das Geld in die Hand drückte, war sie mir auch nie wirklich böse gewesen. "Danke, mach ich" antwortete sie noch leicht schnippisch, ehe sie sich dem Eisstand widmete, bei dem sie ihr eigenes Eis kaufte.

In der Zwischenzeit war ich an ein Plakat herangetreten, welches neben dem Eisstand an der Wand eines alten Fachwerkhauses befestigt worden war. In großen und bunten Lettern stand 'Go-Kart' über einem Bild eines Go-Kart-Fahrers in weißer Kleidung, welcher siegessicher die Faust in die Höhe streckte. Scheinbar war gestern die Eröffnung der neuen Rennstrecke gewesen, denn es standen Öffnungszeiten und Adresse darunter. Automatisch begann ich begeistert zu grinsen, während ich die Öffnungszeiten überflog.

"Lass uns GoKart fahren" schlug Gwen hinter mir enthusiastisch vor, die ich scheinbar mit meiner Begeisterung angesteckt hatte. Denn das hatten wir in Frankreich gemeinsam mit meinem Onkel getan. Zustimmend drehte ich mich zu ihr um, wobei mich die Französin herausfordernd ansah. "Immer doch" Nachdenklich las ich mir noch einmal die Adresse, die uns zu der Rennstrecke führen konnte, durch während ich mein Eis daran hinderte zu schmelzen.

Um mich herum hörte ich nur das regelmäßige Aufheulen der Motoren, wobei mein eigener bereits lief. Vor mir saß Gwen startbereit in ihrem Kart und hatte sich für einen Moment zu mir umgedreht, um mich provozierend anzugrinsen. Das Mädchen hatte hin und wieder ihre Phasen, in denen sie eindeutig zu sehr von sich überzeugt war und heute hatte sie eine dieser Phasen. Sie ging quasi davon aus, dass ich sie nur von hinten zu Gesicht bekam, weswegen ich mir fest vornahm, sie zu schlagen. Ich kannte sie mittlerweile gut genug um zu wissen, dass sie eines der besten Beispiele war, dass man Mädchen auf keinen Fall unterschätzen durfte. Herausfordernd streckte ich meinen Daumen in die Höhe und zog den Klettverschluss meiner schwarzen Handschuhe fest. "Juan!" Ich drehte mich zu meinem Onkel José um, welcher in der Kartreihe hinter mir stand und mir mit Gesten zu verstehen gab, dass ich Gwen nicht absichtlich gewinnen lassen sollte. Ha! Als ob ich das tatsächlich machen würde. Ich wollte ein ehrliches, faires Spiel und keines, bei dem der eine den anderen gewinnen ließ. Jedoch nickte ich meinem Onkel zu, zu dem ich in der letzten Zeit in Frankreich ein sehr vertrautes Verhältnis aufgebaut hatte und setzte meinen dunklen Helm auf, welcher die Nummer "5" trug. 1-2-3-Los! Konzentriert trat ich auf das Gaspedal, wobei ich aufgrund des Startes erstmal in meinen Sitz gedrückt wurde, während ich versuchte das Spiel für mich zu entscheiden.

"Wenn wir das erste Angebot - 1 halbe Stunde -  nehmen, haben wir danach alle Zeit der Welt und müssen uns nicht beeilen, um den Bus zu erwischen" dachte ich laut, während ich die Infotafel überflog, die uns zeigen sollten, welche Angebote wieviel kosten würden. Gwen, welche die Infotafel auf Englisch vor sich liegen hatte, band sich die Haare zurück und zuckte mit den Schultern. "Eine halbe Stunde reicht mir, um dich zu schlagen" Aufgrund ihrer Selbstsicherheit musste ich schmunzeln und erwiderte für eine Sekunde ihren Blick. "Sei nicht so von dir überzeugt, das schadet dir noch" warnte ich sie vor, bevor ich mich an die Kasse stellte und unser zusammengeworfenes Geld vorstreckte um das erste Angebot für zwei Personen zu wählen. "Das letzte Mal hat es mir auch nicht geschadet" entgegnete sie triumphierend, worauf ich nur kurz mein Gesicht verzog. Obwohl ich mich nicht gerne daran erinnerte, hatte sie doch tatächlich gewonnen, nachdem es ihr gelungen war, mich auf der Zielgeraden zu überholen. Einige Runden lang hatte ich vorne gelegen und es sah auch wirklich so aus, als würde ich auch gewinnen. Doch dann war ich meinem Onkel, welcher sich mit dem Kart nicht ganz so leicht getan hatte wie wir, hinten drauf gefahren, worauf wir beide erstmal in der Bande gelandet waren. Dies hatte zur Folge gehabt, dass Gwen Zeit hatte, mich zu überholen und ins Ziel zu fahren.

"Bild dir nicht zu viel darauf ein und streng dich dieses Mal einfach nochmal an. Denn leicht mach ich es dir ganz sicher nicht" Ich grinste. Mittlerweile hatte ich in den letzten Tagen so viel mit Gwen unternommen - auch wenn wir eigentlich nur selten alleine gewesen waren - dass ich mich in ihrer Gegenwart wieder einigermaßen entspannen konnte, da ich keinen Grund hatte ihr zu misstrauen. Doch wie früher war unser Verhältnis trotzdem nicht. Wir waren beide älter geworden. Reifer und allgemein erwachsener. Und obwohl wir uns zu verstehen schienen, fehlten uns die letzten fünf Jahre, von denen wir nicht wussten, was der jeweils andere in diesen Jahren durchlebt hatte.

"Setzen Sie bitte diese Helme auf und warten sie an der Bande auf ihre Kartnummer, die Ihnen zugeteilt wird." lautete die Anweisung eines langhaarigen Mannes, welcher etwa Mitte 30 war. Wir taten wie gehießen und begutachteten neugierig unsere Karts, welche bereits in ihren Startlöchern standen. Zwei weitere Männer standen neben uns und während der eine lauthals, damit es auch ja jeder hörte, auf Spanisch damit prahlte, dass er bereits oft mit solchen Karts gefahren war und schon einige Male die Ziellinie als Erster überschritten hatte, blieb der andere eher ruhig und blickte hin und wieder zu uns hinüber. Leise übersetzte ich für Gwen, damit sie mitbekam, was der Jüngere der beiden Fremden von sich gab, was sich jedoch als keine gute Idee erwies. Denn Gwen, die ohnehin keinen Nerv für solche Prahler hatte, schnaubte nur genervt auf und verschränkte ihre Arme vor der Brust. "Dem werd ich zeigen, dass man ihn schlagen kann. Und das sogar als Frau" Schmunzelnd trat ich an mein mir zugewiesenes Kart heran, welches dieses Mal die Nummer '12' trug und drehte mich zu der Französin hinter mir um, welche einen entschlossenen Blick aufgesetzt hatte. "Ich möchte aber heute keinen im Krankenhaus einliefern" - "Keine Sorge, ich halt mich zurück, Juan" Leicht grinsend kletterte sie in ihr Kart herein, was ich ihr schlussendlich nachmachte und mich anschnallte. Ich hatte erwartet, dass ich nicht mehr wusste, wo sich das Gas oder die Bremse befand aber überraschenderweise wusste ich sofort wieder, wo alles war, was man zum Gewinnen brauchte.

1-2-3-Los!

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