Kapitel 20 - Juans Sicht

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Ich konnte von Glück reden, dass unser etwas unfreiwilliges Aufeinandertreffen mitten in der Nacht letzte Woche das einzige Ereignis war, durch das Gwen mich noch etwas näher kennenlernen konnte. Mir war noch nie bewusst gewesen, dass ich im Schlaf hin und wieder umherwandelte und auf der einen Seite war ich wirklich froh darüber gewesen, dass die Französin mich noch rechtzeitig aufgeweckt hatte - auch wenn bekannt war, dass man das eigentlich nicht tun sollte. Aber selbst wenn sie es nicht getan und gewusst hätte, dass ich geschlafwandelt hatte, dann hätte ich wohl oder übel meinen beiden Lehrern Jacobs und Feé einen Regenschirm über den Kopf gezogen, weil ich immerhin fest in der Annahme war, dass sie in meinem Traum in mein Elternhaus eingebrochen waren.

Ezra hatte ich davon nichts erzählt, da ich die Vermutung hatte, dass er danach immer wieder in Gelächter ausbrechen würde, wenn wir den beiden Lehrern begegneten. Das wäre eher kontraproduktiv, wenn der eigene beste Freund ständig daran erinnert wurde, dass ich im Unterbewusstsein vorgehabt hatte, Herr Jacobs und Frau Feé zu verletzen. Mit Gwen hatte ich über den Vorfall in der Nacht nicht mehr geredet, was ich als positives Zeichen sah. Denn ich war mir sicher, dass ich aufgrund meiner kurzzeitigen Orientierungslosigkeit etwas neben der Spur war und somit auch as Gefühl hatte, dass sie mich hatte küssen wollen. Egal wie sehr ich mir wünschte, dass es wahr wäre und auch egal, ob sie es vielleicht auch hatte tun wollen - Herr Jacobs war mir doch ganz gelegen gekommen.

Nun saß ich im Gemeinschaftsraum der Jungs und betrachtete das Heftchen in meinen Händen, während ich auf den Spanier wartete, der noch ein Wörtchen mit dem Direx reden musste. Wir hatten heute unsere Zeugnisse bekommen, die bei uns sehr unterschiedlich ausgefallen waren. Doch die Austeilung der Zeugnisse wies auch darauf hin, dass etwa 90 Prozent der ganzen Schüler nach Hause fahren würden. Sowohl Ezra, als auch Gwen würden nur etwa eine Woche der Ferien im Internat verbringen, bis sie zu ihren Familien fahren würden. Und obwohl Ezra mich zu sich nach Spanien eingeladen hatte, hatte ich abgelehnt. Ich würde wie jedes Jahr 5 Wochen in Deutschland verbringen, eine Woche in Frankreich bei meinem Onkel.

"Und? Wie sieht dein Zeugnis aus?" Breit grinsend ließ sich Ezra auf das Sofa fallen, auf dem ich mich niedergelassen hatte, und wedelte mit seinem eigenen Heft. "14 Punkte in allen Sprachen - 15 Punkte in Sport und Psychologie" antwortete ich und schlug mein Zeugnis zu. Allgemein war mein Zeugnis sehr gut ausgefallen, weswegen ich mir keine Sorgen bezüglich meiner Zukunft machen musste. "Du bist und bleibst ein Streber" Er riss es mir aus der Hand und besah sich die Noten genauer. "In Kunst warst du schon mal besser, genauso wie in Geschichte." Lernte er meine gesamten Punkte der vergangenen Schuljahre auswendig? "Das sind Fächer, die ich lieber dir überlasse", erwiderte ich und lehnte mich entspannt zurück, während Ezra die Blätter beiseite legte. "Was wollte unsere Direktorin von dir?" fragte ich. "Sie hat mir einen Brief für meine Eltern mitgegeben - Sie haben ja angefragt ob mein kleiner Bruder bereits mit 12 aufs Internat kommen kann." Ich erinnerte mich. Sein kleiner Bruder Milan war vor Kurzem zwölf geworden, obwohl man erst mit 13 Jahren ein Schüler des Internats werden durfte.

"Was wirst du in den Ferien machen?", wechselte der Ältere von uns beiden das Thema und sah mich prüfend an. "Ich werde José besuchen. Für etwa eine Woche. Ansonsten hatte ich nur vor, hier zu bleiben." Mitleidig sah mich Ezra an, weswegen ich meinen Blick abwandte. "Schau mich nicht so an. Ich will weder zu meiner Familie nach Portugal, noch will ich mit dir nach Spanien. Ich hatte dich erstens schon lang genug am Hals und zweitens solltest du die Zeit mit deiner Familie alleine verbringen." Obwohl mein erstes Argument auf Außenstehende nicht ganz so freundlich wirkte, wusste ich, dass Ezra mich nicht ernst nahm - immerhin war er mein bester Freund und das wusste er nur zu gut.

"Ich komm eine Woche vor Schulbeginn wieder nach Hause. Weißt du ob Gwen hier bleibt?" - "Sie fährt zu ihrer Familie.", antwortete ich knapp und winkelte meine Beine etwas an, so dass ich meine Füße auf das Sofa ziehen konnte. Die Sommerferien würden wohl äußerst langweilig werden, obwohl ein Klassenkamerad, mit dem ich mich doch recht gut verstand, ebenfalls hier bleiben würde. "Egal, genieß die letzten Tage mit deinem unglaublich unterhaltsamen besten Kumpel." Seine Worte ließen mich schmunzeln, obwohl ich es mir nicht zweimal sagen ließ.

In den letzten Tagen, bis zu Ezras und Gwens Abreise aus dem Internat, hatte ich nicht viel mit der Französin zu tun gehabt. Nur am letzten Tag überredeten mich sie und der Spanier dazu, mir ein neues Handy anzulegen. Denn seit ich mein Handy aus reiner Verzweiflung und Paranoia zerstört hatte, kam ich ganz gut ohne das elektronische, tragbare Kommunikationsgerät zurecht. Doch das Argument, dass die Ferien dann schließlich doch nicht so langweilig werden würden, wenn ich mich mit ihnen unterhalten konnte, ließ mich meine Meinung doch ändern. Somit hatte ich, auch nachdem die beiden bereits seit zwei Woche bei ihren Familien waren, regelmäßigen Kontakt zu ihnen, auch wenn ich zugeben musste, dass sich meine Gefühle zu der Französin in keinster Weise verringert hatten. Viel eher hatte ich die Vermutung, dass sie durch die Distanz zwischen uns gewachsen waren, sodass ich mir immer sehnlicher wünschte, dass ich sie wieder sehen konnte. Denn je länger meine Gedanken um Gwen kreisten, desto mehr vermisste ich ihre provokante Art, ihr ergeiziges Grinsen und ihre Konter auf meine Worte.

Ich hatte wohl niemals damit gerechnet, dass ich nach Chiara noch einmal solche Gefühle entwickeln konnte, auch wenn ich tag täglich das Mädchen, welches auf unnatürliche Art und Weise aus meinem Leben gegangen war, vermisste. So schnell wollte ich meine verstorbene Freundin nicht vergessen und doch wusste ich, dass es nun jemand anderes gab, der sich gnadenlos meine Gefühle gekrallt hatte und mir dadurch immer wichtiger wurde. So wichtig, dass ich dadurch beinahe verletzlich werden konnte.

Die Zeit im Internat ging schleppend voran, weswegen ich froh war, dass ich durch den regelmäßigen Kontakt zu Ezra und auch zu Gwen über WhatsApp, nicht versauern konnte. Der Spanier hatte mich vor seiner Abreise dazu genötigt, mir alle 'überlebendsnotwendigen' Apps herunterzuladen, die ich jedoch zum Teil alle wieder von meinem Handy gelöscht hatte - allein die Kommunikationsapp Nummer 1 in Europa hatte ich so gelassen, wie Ezra sie mir eingestellt hatte, nachdem ich ihm höchst unfreiwillig das Gerät überlassen hatte.

Doch auch die Wochen im Internat gingen irgendwie rum, sodass ich in der vorletzten Ferienwoche im Zug nach Frankreich saß und am Bahnhof von meinem Onkel Josè in Empfang genommen wurde. Da ich ihn jährlich einmal besuchte, merkte ich immer wieder, wie sehr er sich über meinen Besuch freute. Er hatte weder eine Lebensgefährtin, noch Kinder und demnach behandelte er mich so wie seinen eigenen Sohn, was mir doch ganz gelegen kam - denn meinen leiblichen Vater würde ich am liebsten auf dem nächstbesten Flohmarkt verkaufen.

Aufgrund des Actionpogramms, welches Josè für meinen Besuch geplant hatte, ging die vorletzte Ferienwoche in Frankreich nach meinem Geschmack eindeutig zu schnell herum, denn unter anderem waren wir zusammen mit meinen beiden Cousinen, die keinerlei Probleme mit meiner distanzierten Art hatten, Lasertag spielen gegangen, wobei auch ich meine Maske für einige Stunden abgelegt hatte - Spaß musste sein.

Aber da auch Ezra, der mir einiges zu erzählen hatte, am gleichen Tag wie ich nach Hause gefahren war, hatte ich mich auch auf die Rückfahrt ins Internat gefreut.

Do You Believe In Fate?Where stories live. Discover now