Kapitel 16 - Juans Sicht

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Das Gefühl von weichen Lippen auf meinen, ließ mein Herz für einen Moment aussetzen, denn damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet, weswegen ich mich für einen Augenblick reflexartig anspannte. Doch die Tatsache, dass ich das Gefühl der vollkommenen Geborgenheit und der Zuneigung, welches sich wohlig in meinem Körper ausbreitete, vermisst hatte, ließ mich dennoch beinahe sofort wieder entspannen. Immerhin hatte ich in meiner Kindheit keinerlei Zuneigung gezeigt bekommen, die beinahe schon als natürlich angesehen wurde und seit Chiara von meiner Seite gewichen war, hatte ich niemanden mehr so geliebt, wie ich sie geliebt hatte.

Doch bevor ich mich zu sehr in dem Kuss verlor, löste ich mich langsam wieder von ihr und zog meine Hand wieder zurück, die ich - ohne es selbst zu merken - an Gwens Hinterkopf gelegt hatte, um den Kuss einwenig vertiefen zu können. Ich klemmte ihr eine Haarsträhne hinters Ohr und erwiderte für einen Moment ihren Blick, den sie mir zugeworfen hatte, was bei mir jedoch wirklich eine Seltenheit war, denn schon in meiner frühen Kindheit hatte man mir weiß machen wollen, dass es eine unhöfliche Geste war, wenn man jemandem zu lange in die Augen schaute. Totaler Bullshit, wenn ihr mich fragt aber das hatte sich in mir festgesetzt, sodass ich diese Angewohnheit nicht mehr los wurde. An dem Gespräch zwischen Gwen und ihrem Ex vor dem Kuss hatte ich mich eher wenig beteiligt, viel eher versuchte ich Gwen zu beruhigen, welche sich mittlerweile eindeutig zu sehr hineingesteigert hatte. In dem Punkt hatte Ezra Recht: Ich war der Ruhepol, während Gwen sich eindeutig schneller reizen ließ.

Kaum hatte sich sowohl Clément als auch Gwen aus dem Staub gemacht, weil Letztere zurück in den Untericht musste, verschränkte ich meine Arme hinter meinem Kopf und genoss die Mittagssonne, die durch das Blätterdach auf mein Gesicht schien und mir in der Nase kitzelte. "Was war das bitte?" Widerwillig schlug ich meine Augen wieder auf und sah, wie Ezra auf mich zu kam und mich ungläubig ansah. "So viel dazu, dass da angeblich nicht mehr zwischen euch ist" Ich schloss wieder meine Augen und atmete erst einmal schweigend ein und aus. "Du hast deine Augen auch überall, richtig?"

„Muss ich doch, um zu wissen, was mit meinem besten Freund passiert" erwiderte Ezra, welcher sich neben mir niedergelassen hatte. „Also sprich: wieso behauptest du, du bist nicht an Gwendolyn interessiert und 10 Minuten später sehe ich, wie du sie küsst." Da ich wusste, dass ich so einfach nicht aus der Situation herauskommen würde, setzte ich mich langsam auf. „Jetzt gib einfach zu, dass ihr bereits eine Beziehung führt. Ich weiß, dass du dem Menschen erst zu 100 Prozent vertrauen musst, bis du ihm näher kommst...aber du kennst Gwen bereits seit über 5 Jahren. Sag mal was dazu, Juan." Während Ezra sich in seinem Redefluss befand, nutzte ich die Möglichkeit um selbst darüber nachzudenken, was vor ein paar Minuten passiert war. Ich hatte eine alte Freundin geküsst.

Allein schon der Gedanke an ihre Lippen und an ihren Geruch, der mir dabei in die Nase gestiegen war, ließ mich automatisch lächeln. Ohne es zu wollen hatte der Kuss verschiedene Gefühle in mir ausgelöst, die ich seit Chiaras Tod lange nicht mehr empfunden hatte: Zuneigung, Geborgenheit und vor allem...Sehnsucht nach mehr. Nur zu gern würde ich nochmal neben ihr sitzen und ihre Lippen erneut auf meinen spürten. Doch es war ein einmaliges Erlebnis gewesen. Ein Erlebnis, welches mir die Augen und auch das Herz geöffnet hatte. Es würde jedoch nicht mehr wiederholt werden, denn der Wetteinsatz war eingelöst worden und ich wusste, dass Gwen zu stolz war, um mich noch einmal um einen Gefallen zu bitten.

Ezra schnippte mit den Fingern vor meiner Nase herum um meine Aufmerksamkeit erlangen zu können. „Ich weiß, dass du nicht gerne über dich und deine Gefühle und Gedanken redest....manchmal wirkst du sogar wie ein emotionaler Krüppel" Danke Ezra. So eine Bezeichnung für meine gewohnte Barierre zwischen mir und einer anderen Person hatte mir noch gefehlt. „Aber wenn du schon so geistesabwesend vor dich hin lächelst, solltest du wirklich zu Psychologe Ezra gehen, denn dass du auf einmal so-" - "Ezra, halt die Klappe.Ich bin derjenige der Psychologie gewählt hat. Außerdem brauchst du selbst psychologische Hilfe...ich mein, wer malt schon Blockkästchen an, so dass es später wie ein Herz aussieht? Erstens brauche ich keine Hilfe und zweitens finde ich die Gesellschaft von irgendwelchen lebendigen Lebewesen gerade eher unpassend, schließlich weiß ich momentan selbst nicht, wie ich damit umgehen soll, dass ich meine alte Freundin geküsst habe." Ich sah, wie Ezra zu grinsen begann. Scheinbar schien er zu merken, dass mich der Kuss mehr mitgenommen hatte, als er es tun sollte, weswegen ich bestimmt aufstand. Im Hintergrund hörte ich nur, wie mein bester Freund die Worte „Das nenn ich Schicksal, mein Freund. Daraus wird noch eine frische Liebe, die alle Wunden heilt", murmelte. Idiot. Er hatte keine Freundin gehabt, die während einer langen, festen Beziehung gestorben war. Und dennoch versuchte er mir improvisierte Psychotherapiestunden zu geben, in dem er mich darum bat, ihm mein Herz auszuschütten. Das hatte ich noch nie getan und würde es sicher auch niemals tun. „Ich gehe eine Runde joggen" teilte ich ihm mit, wobei ich jedoch stattdessen in meinem Zimmer verschwand, um mich auf die Fensterbank zu setzen.

Die Erinnerung an sie war stärker als zuvor. Jedes Mal wenn ich an sie dachte, verspürte ich den Anflug von Trauer. Dieser wurde jedoch durch den Kuss von Gwen nur verstärkt. Trauer und auch Wut, dass ich nichts gegen ihren Tod hatte machen können. Egal wie sehr mir der Kuss gefallen hatte - ich wollte Chiara weder aus meinen Gedanken und Erinnerungen verdrängen oder verbannen, noch wollte ich sie ersetzen. Denn die Aussage war wahr, dass die zweite Liebe es immer schwerer hatte als die erste Liebe.

In meinen Gedanken versunken angelte ich mir die Zigarettenschachtel, welche auf dem Tisch schräg neben mir lag und noch nah genug war, so dass ich dazu nicht aufstehen musste. Ich rauchte nicht regelmäßig aber wenn ich es tat, dann mit einem driftigen Grund. Und jetzt hatte ich einen.
Mit einem schnellen Handgriff hatte ich unser Fenster geöffnet, wobei ich dafür erst die Fensterbank verlassen musste, ehe ich mir eine Zigarette zwischen die Zähne klemmte und nach einem funktionstüchtigen Feuerzeug suchte, welches ich schlussendlich in meiner Sporttasche fand.

Ich lag auf meinem Bett, hatte die Augen geschlossen und sah vor meinem geistigen Auge, wie Chiara sich zu mir umdrehte, als ich ihren Namen ausgesprochen hatte. Es war windstill und doch flogen ihre dunkelblonden Haare zur Seite, als sie sich glücklich lächelnd zu mir umdrehte. Keiner von uns sagte auch nur ein Wort, viel eher kam sie auf mich zu und verschränkte ihre schlanken Arme in meinem Nacken, wobei ich meine eigenen automatisch an ihrer Hüfte platzierte und einen imaginären Punkt zwischen ihren Augen fixierte. Sie war so schön.
Kaum hatte ich diesen Gedanken abgeschlossen, hatte sie die letzten Zentimeter zwischen uns geschlossen und mir einen Kuss auf die Lippen gedrückt. Ich verspürte beinahe schon den frischen Geschmack von Zigarettenrauch. Doch ich wusste, dass ich diesen Geschmack niemals mehr zu spüren bekam. Ich würde auch niemals wieder ihre Lippen auf meinen spüren können. Denn sie war tot. Und diese Erkenntnis brachte mich zurück auf den Boden der Tatsachen, so dass ich meine Augen wieder aufschlug. Ich lag auf meinem Bett und starrte unentwegt nach oben. Die Vorstellung unserer Bewegung war zwar nie passiert und doch hatte es alles so real gewirkt, dass ich für einen Moment gedacht hatte, dass Chiara wirklich noch lebte.

Sofort schüttelte ich meinen Kopf um mich von den Erinnerungen, die langsam zu überschwappen drohten, zu befreien. Mein Blick fiel dabei auf meine Armbanduhr, die mir verriet, dass ich nun los musste, wenn ich zur nächsten Stunde - Literaturwissenschaften - nicht zu spät kommen wollte. Schweigend schnippte ich den Zigarettenstummel aus dem offenen Fenster, so dass dieser auf dem Dach landete und vor sich hin glütete. Im Flur auf dem Weg zum Klassenzimmer traf ich Ezra, welcher mich wissend angrinste, jedoch zum Glück seine Klappe hielt bezüglich der Szene unter der Linde.

Do You Believe In Fate?Where stories live. Discover now