[19]

5K 430 150
                                    

Taehyung POV

"Taetae, nun komm endlich!"

Der helle Klang ihrer Stimme dringt an mein Ohr und ich beginne breit zu grinsen, als ich mich von ihr mitziehen lasse. Sie deutet auf das große Riesenrad, in das sie eigentlich schon den ganzen Tag wollte, es sich nur bis zum Schluss aufgehoben hat.

Zaghaft setzt sie einen Fuß in die wackelige Gondel, hat noch immer fest meine Hand umschlossen, doch ich lächele ihr aufmunternd zu. Auch wenn sie sich so sehr hierauf gefreut hat, kann sie ihre Angst dennoch nicht verbergen.

Doch schließlich sitzt sie auf dem weichen, roten Plastikpolster und grinst mich zufrieden an. Auffordernd klopft sie neben sich, wo ich mich dann niederlasse und sie sofort ihren kleinen Kopf auf meine Schulter legt.

Meine Schwester legt ihre kleine, zarte Hand in meine, im Vergleich zu ihrer, Großen hinein und drückt sie fest. Mit ihren leuchtenden Augen sieht sie zu mir hinauf, als sich die Gondel in Bewegung setzt.

"Beschützt du mich, Taetae?"

Ich gebe ihr einen liebevollen Kuss auf ihren schwarzen Haarschopf und drücke sie an mich. Ihre Augen blicken unentwegt auf mich, sie traut sich nicht hinauszuschauen, doch allein dass sie hier drinnen sitzt und damit ihre Höhenangst überwindet ist schon genug Mut, den sie bewiesen hat.

"Für immer würde ich dich beschützen, Ari. Mit meinem Leben."

Sie löst sich von mir, ihre Augen glänzen verdächtig und ihr Blick verändert sich. Er wird panisch, das Glück ist verschwunden, ebenso die Sicherheit, die sie in meinen Armen verspürt hat.

"Warum hast du mich dann nicht beschützt?"

Schweißgebadet wache ich auf und fahre mir einmal hektisch über das Gesicht. Diesen Traum habe ich schon so lange verdrängen können, zwei Jahre ist das letzte mal nun her und nun holt er mich wieder ein. Aber warum?

Erschöpft stöhnend richte ich mich auf und ziehe mir ein Shirt über. Als nächstes steuere ich die Küche an und hole mir ein Glas Wasser, dass ich in einem Zug hinunterstürze. Angenehm rinnt das kühle Nass in meiner Kehle herunter und als ich das Glas wieder absetze, kann ich mir ein erleichterndes Schmatzen nicht verkneifen.

Plötzlich geht das Licht an und blinzelnd drehe ich mich in Richtung Tür, wo ich meine Mutter im Rahmen stehend ausmache.

"Tae, ist es wieder soweit?"

Besorgt kommt sie auf mich zu, doch macht kurz vor mir halt. Sie berührt mich nicht, sie sieht meine zitternden Fäuste neben meinem Körper und mein hektisches auf die Lippe beißen, während ich meine Tränen zurückhalte.

"Wie kannst du damit leben, Mama?" Meine Worte sind nur ein leises Wispern und wäre es in der Küche nicht so still, hätte es selbst sie nicht verstanden, obwohl sie vor mir steht.

Meine Mutter seufzt und legt schließlich doch ihre Hände auf meine Oberarme, um mich kurz darauf in die Arme zu ziehen. Beruhigend streichelt sie mir über den Rücken, während ich nur mühsam meine Schluchzer unterdrücken kann.

"Glaub mir Tae, ich kann es genauso wenig wie du, aber das hätte sie nie gewollt."

"Ich vermisse sie so sehr, Mama."

"Ich weiß, Tae. Ich auch."

Nun entkommt auch meiner Mutter ein Schluchzen und es ist wirklich lange her, dass ich sie weinen gesehen habe. Sie gibt sich vor mir immer stark, will nicht, dass ich jemals irgendetwas aufgebe oder traurig bin, weil Ari das nicht gewollt hätte. Meine Schwester hätte gewollt, dass ich weiter so fröhlich bin wie immer, so wie ich immer in ihrer Anwesenheit war.

Ich löse mich von meiner Mutter und wische ihre Tränen fort. Ich schenke ihr ein kleines Lächeln, ich will sie so nicht sehen. Der Traum hat mich wieder schwach gemacht, doch das ist nun vorüber. Niemals mehr will ich schwach sein und niemals mehr werde ich jemanden verlieren.

"Ich gehe noch ein wenig an die frische Luft. Bis später, Mama." Ich drücke ihr einen zarten Kuss auf die Stirn, ehe ich die Küche und schlussendlich das Haus verlasse.

Die kühle Luft ist angenehm und weht meine Ängste sofort wieder fort. Ich steuere einen Park in der Nähe an, wo ich mich dann auf einer Bank niederlasse. Am Horizont erkenne ich bereits die Morgendämmerung und seufze einmal auf. Wie gern würde ich jetzt weiterschlafen...
Meine Hand wandert wie von selbst zu meinem Bauch und gedankenverloren streiche ich durch den Stoff meines T-Shirts über die Narbe darunter. Ich weiß, warum der Traum mich wieder einholt, denn es jährt sich bald wieder. Nun zum dritten Mal...

Lange Zeit sitze ich regungslos so da, betrachte das faszinierende Farbenspiel, das die aufgehende Sonne mir beschert, bis ich die Person neben mir ausmache. Lautlos hat sie sich zu mir gesetzt und ebenso wie ich, einfach gen Horizont gestarrt.

"Guten Morgen, Jungkook", durchbreche ich die Stille, die zwar durchaus angenehm war, doch ich bin viel zu neugierig, was er hier macht.
Der Schwarzhaarige erwidert meinen Gruß mit einem lächelnden Kopfnicken, ehe er seinen Blick wieder zur Sonne richtet.

"Was tust du hier so früh am Morgen?"

Seine schöne Stimme lässt mir einen angenehmen Schauer über den Rücken laufen und mir fällt auf, dass es genau das ist, was ich jetzt brauche. Er lenkt mich ab von meinen Erinnerungen, die mich in all den Jahren noch immer wieder einholen und quälen.

"Ich konnte nicht schlafen", bemerke ich knapp, bin ganz sicher noch nicht bereit, ihm etwas aus meiner Vergangenheit zu erzählen, auch wenn ich mir innerlich geschworen habe, ihm alles zu geben. Doch das hier noch nicht. Nicht meine von mir wie ein Schatz gehüteten Erinnerungen an meine kleine, zehnjährige Schwester.

Doch glücklicherweise geht er nicht darauf ein, nickt nur einmal erneut und blickt weiterhin stumm geradeaus. Aber er muss auch nichts sagen, seine Anwesenheit allein beruhigt mich schon, lässt mich den furchtbaren Traum vergessen.

Erneut schweigen wir uns lange an, die Sonne steht nun schon recht weit oben, mittlerweile müsste es bereits halb acht sein. Ich stehe auf und klopfe mir einmal auf meine Oberschenkel, drehe mich zu ihm und lächele ihn breit an.

"Wir sehen uns ja sicher nachher in der Schule, nicht wahr? Oder bleibst du heute noch zu Hause?"

Er schüttelt den Kopf und steht ebenfalls auf. Erst jetzt fällt mir auf, dass wir beinahe gleich groß sind und ich kann mir ein noch breiteres Lächeln nicht verkneifen. Er gefällt mir so sehr.

"Ich komme wieder. Aber wenn du magst..." Er macht eine Pause, beißt sich verlegen auf die Unterlippe und kickt mit dem Fuß einen kleinen Kieselstein fort. "Wenn du magst, können wir zusammen zur Schule gehen."

Jungkook atmet einmal tief durch, als wäre er erleichtert, es endlich laut ausgesprochen zu haben. Nicht nur ich scheine mich um eine Freundschaft zu bemühen, ihm geht es ähnlich. Er will auch mein Freund sein.

Ich nicke einmal und grinse weiterhin breit, schenke ihm mein Kastenlächeln. "Gern, Kookie! Ich hole dich ab!"

Und mit diesen Worten drehe ich mich um und trete den Heimweg an. Mir ist gerade egal, dass ich mies geschlafen habe. Der Tag hätte nicht besser starten können. Endlich hat Jungkook einen Schritt auf mich zugemacht und jetzt werde ich erst recht nicht aufgeben, egal, was mit ihm los ist.

✧══════•❁❀❁•══════✧

Ein kleiner Einblick in Taes Vergangenheit? Ja, auch er hat sein Päckchen mit sich herumzutragen. ;)

𝐕-𝐁𝐥𝐨𝐠│ᴛᴀᴇɢɢᴜᴋ ✓Where stories live. Discover now