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Brief an Yuna

Yuna,

Zuallererst möchte ich dir hiermit sagen: Ich hasse dich nicht.
Anfangs tat ich es, von ganzem Herzen und dass ich dich so sehr liebte machte den inneren Konflikt in mir nicht leichter. Du hast das Auto gefahren, die Geschwindigkeitsbegrenzung ignoriert und bist dem Reh auf nassem Asphalt ausgewichen. Du hast mir meine Schwester genommen, meinen kleinen Engel, doch du konntest trotzdem nichts dafür. Das weiß ich.

Nachdem das Auto mit dem Baum kollidierte und ich erwachte, meine Arme sofort nach Ari ausstreckte und um sie weinte, suchten meine Augen dann dich. Der Airbag ist ausgelöst worden und dein Kopf lag mit einer riesigen Platzwunde auf der Stirn darin. Ich rüttelte an deiner Schulter, rief deinen Namen, doch du reagiertest nicht. Ich hatte in diesem Augenblick nur einen einzigen Gedanken:

Das kann doch nicht wahr sein.

Hasst das Leben mich so sehr, dass es mir gleichzeitig meine zwei liebsten Menschen entreißt? Noch heute stelle ich mir die Frage, warum ich nicht an eurer statt gestorben bin. So habe ich es nicht verdient zu leben, oder?

Doch plötzlich kam Bewegung in deinen Körper, du drehtest deinen Kopf zur Rückbank und sahst mir in die Augen. Kein Wort sagtest du mir, aber das musstest du auch nicht. Deine Augen sagten mir alles.

Sie sagten mir, wie sehr es dir leid tut und wie sehr du mich liebst. Und Gott Yuna, ich liebte dich auch, so sehr. Und ob ich will oder nicht, ich tue es noch heute, während ich diesen Brief an dich schreibe.

Das nächste Mal erwachte ich im Krankenhaus. Man sagte mir, ich hätte im Koma gelegen, mehrere Wochen und keiner hätte gewusst, ob ich es wirklich schaffen würde. Meine ersten Worte waren eure Namen. Aris und deiner. Natürlich war Ari bereits tot, dass hatte ich selbst am Unfallort gemerkt, doch es direkt ins Gesicht gesagt zu bekommen, tötete mich innerlich.
Doch wegen dir hatte ich Hoffnung. Du warst in dem Auto bei Bewusstsein, also könntest du es doch ebenso geschafft haben, wie ich? Gemeinsam könnten wir den Tod meiner Schwester verarbeiten. Immerhin war auch sie wie eine kleine Schwester für dich. Du warst ihr Vorbild und ich war so stolz, dass ich so ein tolles Mädchen meine Freundin nennen durfte.

Doch auch meine Frage auf dich bezogen wurde mir mit einer weltverändernden Antwort beantwortet. Du bist auch tot. Du würdest nicht mehr zurückkommen, mich nie mehr in den Armen halten, wenn ich traurig war, ich würde dich nie wieder berühren können, dich nie wieder küssen können und nie wieder dein Lachen werde hören können.

Was habe ich nur getan, dass mich dieses Schicksal ereilte? Ich weiß, du hättest gewollt, dass ich mein Leben ohne dich weiterlebe, doch ich konnte es nicht. Ich begann Drogen zu nehmen und Alkohol zu trinken, besuchte Partys und schlief mit anderen Frauen, doch keine war so wie du. Und vermutlich werde ich nie eine solche Person wie dich je wiederfinden.

Ich liebe dich Yuna, das tue ich noch immer, doch heute ist mir klar geworden, dass es so nicht weitergehen kann. Das würdest du nicht wollen. Ich werde niemandem hiervon erzählen, nicht einmal meiner Mutter, die genauso durch die Hölle gegangen ist, wie ich. Du warst wie eine Tochter für sie und sie hat an einem Tag ihre beiden Töchter verloren.

Ich werde nun nach vorne schauen, so wie du es gewollt hättest. Ich werde mein Leben leben und es genießen. Ich werde dich nie vergessen und du wirst immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. Ich liebe dich.

Dein Taehyung

Jungkook POV

Sprachlos lasse ich den zweiten Brief sinken und widme meine ganze Aufmerksamkeit nun Taehyung, der mir still die ganze Zeit gegenüber gesessen hat und mich beobachtet hat. Ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll und wenn ich meinen würde, damit hätte ich gerechnet, wäre das gelogen. Tae hatte also eine kleine Schwester, die bei einem Autounfall ums Leben kam. Laut der Art, wie er den Brief an sie geschrieben hat, hat er sie wirklich über alles geliebt. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie es sich anfühlt, einen so wichtigen Menschen zu verlieren. Wie würde ich mich fühlen, wenn Taehyung auf einmal nicht mehr wäre? Von einem Augenblick auf den anderen? Ich weiß es nicht. Vermutlich würde ich verzweifeln, nie wieder mit jemandem reden wollen.
Ich habe zwar meine Krankheit, die ich täglich mit mir herumschleppen muss, aber Tae hat ein viel schlimmeres Laster meiner Meinung nach mit sich zu tragen. Er ist immerhin bei dem Unfall dabei gewesen, wäre selbst fast daran gestorben, aber ist es nicht und muss sich jeden Tag daran erinnern, dass er sie nie wieder sehen wird.

Aber die Sache mit dieser Yuna verstehe ich dennoch nicht. Laut seinem Brief ist auch sie an dem Tag gestorben, aber augenscheinlich befindet sie sich ja aktuell im selben Haus, wie wir. Ich kann jetzt aber nachvollziehen, wie er über sie denkt, er hat sie geliebt, sie wurde ihm entrissen und er hatte keine Zeit sich zu verabschieden. Klar ist man dann da durcheinander, wenn diese Person plötzlich doch wieder vor dir steht.

Nach dem Einblick in Taehyungs Vergangenheit bin ich ihm auf keinen Fall mehr böse, ganz im Gegenteil, ich fühle mich ihm näher als zuvor, da ich nun sein größtes Geheimnis kenne. Mein Verhalten tut mir leid, wenn ich nicht so reagiert hätte und ihm sofort zugehört hätte, wäre uns vermutlich eine Menge erspart geblieben.

"Tae", flüstere ich mit kratziger Stimme und mustere sein Gesicht, das mich unentwegt versucht anzulächeln, obwohl ihm weiterhin Tränen die Wangen herunterlaufen.

"Jungkook", erwidert er ebenso leise und rutscht näher zu mir, um seine Hände auf meinen Knien zu platzieren.

"Es tut mir leid", bringe ich mit nun zitternder Stimme hervor und beiße mir auf die Unterlippe. Doch mein Freund schüttelt den Kopf, fährt mit seinem Daumen einmal über die Lippe, damit ich aufhöre, darauf herumzubeißen.

"Dir muss gar nichts leid tun, Jungkook. Ich habe den Fehler begangen und nicht du."

Ich schüttele vehement den Kopf und lehne mich weiter zu ihm vor. Er hat zwar Recht damit, dass er einen Fehler gemacht hat, aber ich habe ebenso einen gemacht. Ich hätte für ihn da sein sollen und das war ich nicht. Ich bin ein schlechter Freund, der nicht einmal auf die Bedürfnisse des Anderen eingehen kann.
Meine Hand wandert zu seiner Brust und von da weiter nach oben, um sich dann in seinem Nacken zu platzieren. Dadurch kann ich ihn näher zu mir ziehen und ihn endlich wieder so küssen, wie ich es die ganze Zeit schon möchte. Taehyung seufzt erleichtert in den Kuss hinein, zieht mich auf seinen Schoß und lässt seine Hände auf meinem Rücken verweilen. Wie konnte ich es nur so lange ohne diese Berührungen aushalten? Ohne diesen Jungen?

Auf jeden Fall ist jetzt eines klar: Ich werde nicht mehr gehen und ihn nicht mehr allein lassen. Ich werde bei ihm bleiben und sofern er das möchte, dann auch für immer.

𝐕-𝐁𝐥𝐨𝐠│ᴛᴀᴇɢɢᴜᴋ ✓Unde poveștirile trăiesc. Descoperă acum