chapter one - (don't fear) the reaper

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track no. 1 ♫
(don't fear) the reaper;
by blue öyster cult


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DIE LUFT IN DER EINGANGSHALLE lockte ihn ein allerletztes Mal mit dem behaglichen Duft seiner Kindheit; verspottete ihn mit der höhnisch-verheißungsvollen Nostalgie eines gnadenlosen Verstoßenden und—oh, wie gerne hätte er es in diesem Augenblick ...

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DIE LUFT IN DER EINGANGSHALLE lockte ihn ein allerletztes Mal mit dem behaglichen Duft seiner Kindheit; verspottete ihn mit der höhnisch-verheißungsvollen Nostalgie eines gnadenlosen Verstoßenden und—oh, wie gerne hätte er es in diesem Augenblick seiner kleinen Schwester gleichgetan, die sich auf die Treppenstufen gekauert hatte und hemmungslos in ihre Hände schluchzte.

Aber er brachte es nicht einmal fertig, ihr über das Haar zu streichen; sich neben sie auf das vertraute, polierte Holz der untersten Stufe sinken zu lassen und mit leiser, beharrlicher Stimme zu geloben, dass diese bittere, ehrlose Tragödie kein Abschied für immer sei.

Stattdessen beschränkte er sich darauf, neben seiner erstarrten Mutter in der Tür stehenzubleiben und seinen Blick ein letztes Mal durch die imposante Halle schweifen zu lassen, die er neunzehn Jahre lang unachtsam und gedankenlos durchquert hatte. Ihm war nie aufgefallen, wie zauberhaft das Licht durch die hohen Kristallfenster auf die Holzvertäfelung an der gegenüberliegenden Wand fiel; dass die Sonnenstrahlen tatsächlich golden schimmernde Reflexe aus der Maserung hervorkitzelten—dass es kaum einen trüben Oktobernachmittag brauchte, um das Vestibül in einen Glanz zu tauchen, der sich nur als ätherisch beschreiben ließ.

Er war in einem Märchenschloss aufgewachsen, wie ihm langsam mit erdrückender Dringlichkeit bewusst wurde, und er hatte es nicht einmal zur Kenntnis genommen.

Oben auf dem Treppenabsatz, der nun im Halbdunkel lag, hatte er neben seinen Eltern und Geschwistern zahlreiche Galen eröffnet; sich in der wohlmeinenden Bewunderung der Anwesenden gesonnt, der reiche, hübsche Politikersohn, der er nun einmal war, mit einem (von Vaters Geld fundierten) prestigereichen Schulabschluss, einem strahlenden, einnehmenden Grinsen und den richtigen, polierten Worten auf den Lippen. Beinahe meinte er ein letztes, verzerrtes Mal das Klinkern der gefüllten Sektgläser zu hören, das als Kulisse dieser gelösten Stimmung durch ebendie Räumlichkeiten gehallt war, die nun nur noch dem Schluchzen seiner Schwester Resonanz boten.

An den Wänden klafften wie hässliche Wunden die dunklen Verfärbungen im Holz, vor denen all die Jahre die Porträts seiner Ahnen festgemacht gewesen waren—jetzt nur noch Subjekt einer zweitrangigen Auktion in einer abgelegenen Stadthalle, zu der sie keinen Zugang finden würden. Er spürte, wie seine Hände sich zu Fäusten in den Taschen seiner Jacke ballten.

Die Wut, die in den vergangenen Tagen durch die Fassungslosigkeit ihrer Situation erstickt gewesen war, drohte nun aus ihm herauszubrechen wie eine Flutwelle seiner vergangenen Sorglosigkeit und nur seiner Mutter zuliebe, die schmal und zerbrechlich neben ihm in der Türschwelle stand und ihren Kindern erlaubte, in diesen wenigen Sekunden erwachsen zu werden, zwang er sich stattdessen, den Zorn durch kontrollierte Atemzüge aus seiner Brust zu verbannen.

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