chapter four - surrender

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track no. 4 ♫
surrender;
by cheap trick


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DIE KRISTALLKLARE NACHT HATTE sich tief über Gangnam-Gu gesenkt und hüllte alles jenseits der Straßenbeleuchtung und den Abblend- und Bremslichtern der auf dem Teheranno verkehrenden Autos in eine erstickende Schwärze

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DIE KRISTALLKLARE NACHT HATTE sich tief über Gangnam-Gu gesenkt und hüllte alles jenseits der Straßenbeleuchtung und den Abblend- und Bremslichtern der auf dem Teheranno verkehrenden Autos in eine erstickende Schwärze. Die falschen Sterne der tausenden, dimmen Lichter in den Hochhäusern glitzerten auf Jimin hinab wie eine Konstellation, die er nicht kannte und folglich nicht zur Navigation durch das unbekannte Terrain verwenden konnte.

Für Ende Oktober war es so eisig kalt, dass sich kaum jemand auf den Straßen herumtrieb; selbst der Teheranno-Boulevard, der sich durch ganz Gangnam-Gu zog wie ein destruktiver Krater, wie eine prominente Schlucht, war beinahe vollkommen desertiert. Jimin kam schnell voran, beide Hände in den Jackentaschen vergraben, seine Knöchel trotz der isolierenden Wärme wund und kalt, wann immer sie gegen den Stoff der Taschen strichen. Seine Nase brannte in der unbarmherzigen Kälte und für jeden Atemzug den er schöpfte, schien seine Lunge sich durch aufbäumendes Rebellieren an ihm rächen zu wollen.

Der Bus, den er genommen hatte, war nur bis nach Samseong-Dong 2 gefahren, und so musste er die restlichen zwei Kilometer nach Yeoksam 2 zu Fuß beschreiten—über den Teheranno hinweg, auf dessen tiefgelegenen Boden er sich unheimlich schutzlos fühlte. Jeder Wolkenkratzer, den er passierte, schien zu einem Hochsitz eines mitleidlosen Jägers zu werden, dessen Flinte er auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. Dort oben, in den hohen Bauten, die wie schlanke, befestigte Finger in den Himmel ragten, saßen diejenigen Menschen, die das Land jenseits des Einflussbereichs ihrer Politiker lenkten. Kinder und Profitierende des Wirtschaftswunders Südkorea, das am Ende der Siebziger Jahre aus der Asche zweier Diktatoren, einer Militärregierung und eines Krieges entstiegen war.

Sein Vater und seine Lehrer hatten ihm allzeit gelehrt, dass er stolz sein sollte auf seine Nation, die sich von dem ärmsten, unmöglichen Streifen Land zu einer führenden Wirtschaftsmacht gewandelt hatte—und das in kaum zwanzig Jahren. Wann immer er durch Gangnam-Gu schritt, sollte er sich in Erinnerung rufen, was für eine Unmöglichkeit die Anwesenheit dieser riesigen, wohlhabenden Wolkenkratzer fürwahr darstellte.

Jimin wäre blinder Beifall und lechzende Bewunderung wahrscheinlich ein wenig leichter gefallen, wenn er die letzten zwei Monate nicht in aller Vollkommenheit durchlebt hätte—wenn er nicht erfahren hätte müssen, wie einfach es war, in solch einer Friss-oder-Stirb-Gesellschaft alles zu verlieren. Nur, weil sein Vater einen Fehler begangen hatte.

Zwei Welten schienen sich in Gangnam-Gu übereinander zu legen, wie ein Palimpsest verschiedener Möglichkeitsbereiche, durchlebter Erinnerungen, Zukunftsausgänge—nur dann unabhängig voneinander betrachtbar, wenn man sie hochhielt und gegen das Licht hielt. Seine Schicht des Schabtextes begann auf dem Grau des regendurchnässten Gehwegs, Schuhe feucht und schmutzig, die von Wasser durchtränkten Abgase in der Nase wie ein unausweichliches Parfüm—sie umschloss sowohl seine Gestalt, die ohne Regenschirm durch den Nieselregen eilte, wie auch die Immaterialität seiner Situation, den Hintergedanken an die entlaufene Jisoo, seine brennende Sorge um Jihyun und seine Mutter. Auch seine Rache, seine Lust nach Vergeltung und Streben nach Erkenntnis wusste das Palimpsest seines Charakterzeugnisses abzudecken. Das Wichtigste jedoch war die Tatsache, dass er dabei draußen war, auf der Straße, dem Gehweg, außerhalb von Gangnam-Gu in den Randgebieten von Sillim-Dong; denn das war die Wesenheit der anderen Welt, derjenigen, die er bis vor wenigen Wochen scheinbar bewohnt hatte. Sie grenzte aus, exkludierte ohne Mitleid oder Skrupel—sie war vielmehr innen, innerhalb der Wolkenkratzer, innerhalb von Gangnam-Gu, innerhalb der reichen Villen, die sich entlang des Distrikts zogen wie eine Armada der sozialen Ungerechtigkeit.

PURPLE RAINWhere stories live. Discover now