Die Augen des Odin

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Amadeus Regis Gruber, der Odin von Walhalla 23 und damit der vielleicht mächtigste Mann der Welt, lehnte sich zufrieden lächelnd in seinen Bürosessel zurück und legte seine knochigen Finger aneinander. Er war eine schmerzhaft dünne Präsenz: hochgewachsen und asketisch mager, gekleidet in einen makellos erhaltenen schwarzen Dreiteiler in viktorianischem Schnitt, war sein einziges Zugeständnis zu Farbe eine purpurne Krawatte, an welcher eine Diamantnadel glänzte.

Purpur. Die Farbe der Könige, der Kaiser, und die des Todes.

Eine weiße Mähne dünnen Haares fiel sanft auf seine Schultern und umgab ein Gesicht wie ein lederbespannter Totenschädel. Viele, die ihn das erste Mal sahen, wurden unweigerlich an biblische Abbildungen der apokalyptischen Reiter erinnert. An Tod und Pest ... und vor allem Hungersnot.

Vergleiche, die näher an der Realität lagen, als den meisten Menschen bewusst war. Als Odin von Walhalla 23 war Gruber der uneingeschränkte Herrscher über den tief im Herzen des Brockenberges gelegenen Superbunker. Ihm unterstellt waren die brillantesten Wissenschaftler, welche das geschändete Deutschland – vermutlich die ganze Welt – noch anzubieten hatte. Seit mehr als einhundert Jahren arbeiteten ganze Generationen dieser Männer und Frauen daran ihr Erbe zu erfüllen. Ein Plan zur Auslöschung aller Veränderten, auf das die Menschheit einmal mehr uneingeschränkt über den Planeten herrschen mochte.

Das Genesis Programm.

Grubers persönlicher Favorit unter all den Waffenprojekten, die unter der Schirmherrschaft des Genesis-Programmes enstanden sind, war Archetype. Ein Bio-Waffen-Programm, das kurz vor dem Durchbruch gestanden hatte, bevor sein bester Freund und dessen Tochter es sabotierten. Die beiden hatten alles vernichtet oder verfälscht: die verschiedenen Virenkulturen, die Forschungsberichte, Zellkulturen ... alles.

Alles bis auf den Prototypen, welchen sie gestohlen hatten.

Ein kaltes Lächeln huschte über seine kadaverhaften Züge.

Und diesen hatte er gerade wiedergefunden.

Vor ihm, auf einem Video-Bildschirm der die gesamte Wand einnahm, spielten in mehreren Fenstern die Memory-Aufzeichnungen seiner zurückgekehrten Raben-Drohnen. Eines der Fenster blinkte und war über die anderen herangezoomt. Grüne Kästchen mit Fenstern in denen die Datenparameter des Gesichts- und Körpererkennungsprogramm angezeigt wurden, überlagerten die Körper eines in HAZMAT-Mäntel gekleideten Trios und analysierten Größe, Gewicht, Körpersprache, Mimik, Gestik und was von den vermummten Gesichtern zu erkennen war. Die Übereinstimmung zu den Zielparametern lag bei über 90%. Mehr als genug, doch es konnte nicht schaden, sich selbst zu überzeugen.

Gruber schloss die Augen. Das eine war grau wie Stahl, das andere, ein miniaturisierter Supercomputer der Odin-Klasse, war aus Stahl – ein seelenloser metallisch-grauer Orb, ohne Iris und Pupille. Das Auge war ein Wunderwerk der alten Welt, welches ihm nicht nur zum Gott dieses Ortes machte, sondern ihm auch absolute Kontrolle über sein Nervensystem gab. Einen simplen mentalen Befehl später erlebte er die Memory-Aufzeichnungen der Drohne, so als wäre er selbst vor Ort gewesen.

Er saß auf der Schulter einer steif gefrorenen Leiche, die aufrecht in einem Metallkäfig stand und pickte an einem gefrorenen Augapfel. Natürlich fraß die Drohne nicht wirklich, doch der scheinbare Akt der Nahrungsaufnahme war eine gute Tarnung. In der Tat schenkte das Trio, welches die verschneite Straße entlang kam, dem vermeintlichen Aasfresser nicht mehr als einen beiläufigen Blick.

Gruber schüttelte traurig den Kopf, als er Leonora Hagen erkannte. Er hatte einst so große Hoffnung in die Tochter seines besten Freundes gelegt. Ein wahres Wunderkind im Umgang mit technischen Dingen und ausgesprochen begabt in den verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen. Sie wäre unweigerlich eine wertvolle Ergänzung gewesen, auch wenn sie schon immer ein zu großes Herz gehabt hatte, mehr Heilerin als Wissenschaftlerin war. Welch grausame Schicksalswende, dass der Schatten von Chimära ausgerechnet auf sie gefallen war.

ARCHETYPE 2.0Where stories live. Discover now